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Hinter Marzahn

■ Sie begannen mit einem "Sieg Heil" und endeten mit viel Blut: "2 1/2 Minuten" (Sonntag, 22.25 Uhr, ZDF)

Freitag nacht. In der fast leeren S-Bahn sind drei junge Türken mit zwei deutschen Freundinnen unterwegs, alle sind guter Stimmung. Kemal mimt für die anderen noch ausgelassen den Gorilla, als die Bahn an der Station Springpfuhl im Ostberliner Plattenbaubezirk Marzahn hält. Eine Gruppe von sechs deutschen Jugendlichen entdeckt vom Bahnsteig aus die Türken. „Ey, wen haben wir denn da...?“ Sie steigen durch beide Türen des Waggons zu, so daß sie das Quintett zwischen sich haben. Die Bahn fährt an, bis zum nächsten Halt Friedrichsfelde braucht sie zweieinhalb Minuten.

Die beginnen mit „Sieg Heil“, „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“, „Kanackenweiber“ und einer Gaspistole. Sie enden mit viel Blut, drei von Messerstichen teils schwer verletzten Ostberlinern, von denen einer später stirbt. Zweieinhalb Minuten, die sich in der Nacht des 16. November 1990 tatsächlich so zugetragen haben. Zahllose weitere wie diese sind seitdem immer wieder an der Tagesordnung – wie erst vergangene Woche, ebenfalls in der Bahn, gleich hinter Marzahn in Hellersdorf.

Doch viel mehr als unbeholfene Betroffenheit haben die öffentlichen Beweger bisher kaum zustande gebracht. Auch dem allgegenwärtigen Massenmedium Fernsehen ist insgesamt herzlich wenig dazu eingefallen. Um so wichtiger, daß sich Rolf Schübel der „zweieinhalb Minuten“ angenommen hat, konkret wie exemplarisch. Schübel, einst sozusagen der junge Mann der alten Garde herausragender Dokumentarfilmer, erhielt sein erstes Grimme- Gold 1972 als 29jähriger für „Rote Fahnen sieht man besser“ und 1990 den Deutschen Filmpreis für seinen Spielfilm „Das Heimweh des Walerian Wrobel“.

Mit „2 1/2 Minuten“ zündet Schübel keine neuen Betroffenheitskerzen an, der studierte Soziologe forscht – unterstützt von dem Rechercheur Peter Reichard – nach bestimmenden Faktoren und Zusammenhängen und übersetzt sie in Spielszenen. Was sich als ungleich effektiver erweist: Die Methode zwingt zum Blick in den Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse, insbesondere der Männerwelt mit ihren Machoritualen.

Zweimal läßt Schübel den Minutenalptraum in der Bahn zwischen Springpfuhl und Friedrichsfelde in seinem Film abrollen, beim erstenmal nimmt die Kamera die Position eines erstarrten Unbeteiligten ein, beim zweitenmal ist sie mittendrin im Geschehen. Dazwischen erzählt Schübel die authentischen Geschichten der Opfer und Täter – mit der ihm eigenen Bedächtigkeit und mit guten, jungen Schauspielern wie den türkischen Akteuren Cem Sultan Ungan, Ercan Özcelik und Hilmi Sözer. Die Geschichte von „André“ (die Namen wurden von Schübel geändert) aus Ostberlin, der kurz vor dem Fall der Mauer in den Westen floh und all seine Enttäuschungen „den Ausländern“ anlastet. Die von „Kemal“ aus Kreuzberg, dem „türkischen Berliner“, der „fast deutsch“ ist und später vom Totschlag freigesprochen wird. Und die von der ungeheuren Chance, die jeder der beiden in seiner Freundin hat – André in Anett und Kemal in Karin, den „eigentlichen Hoffnungsträgerinnen der ganzen Geschichte“, wie es Schübel ausdrückt.

Daß Schübels Film, der nun ganz gewiß junge Menschen etwas angeht, nicht für das ganz große Publikum zur Hauptsendezeit im Programm ist, liegt ausnahmsweise mal nicht am Sender – sondern am deutschen Jugendschutz. Die Wächter glauben nämlich, gerade die Jugendlichen davon fernhalten zu müssen. Was nicht etwa mit der Darstellung jener gewaltsamen zweieinhalb Minuten zu tun hat, sondern, wie Schübel zu berichten weiß, mit ein paar Bildern aus einem Sexvideo, das „André“ – um Geld zu verdienen – in seiner Unterkunft anderen Hausbewohnern gegen vier Mark Zuschaugebühr pro Nase vorführt. Die inkrimierten Sequenzen, zudem durch die Spielhandlung unterbrochen, dauern insgesamt zehn Sekunden und zeigen zwei knutschende Mädchen, die gegenseitig ihre entblößten Brüste berühren. Ulla Küspert

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