: Spielplatz des einsamen Helden
■ Jon Kracauer recherchierte den Tod von Chris McCandless in Alaska
Im Sommer 1983 stellten drei Südtiroler Bergsteiger einen unglaublichen Rekord auf. Sie durchquerten auf Skiern das Inlandeis von Grönland an seiner breitesten Stelle. In 88 Tagen zogen sie mit Schlitten über 1.400 Kilometer ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne Hilfsmannschaften auf Abruf durchs Packeis. Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier nahm die Nachricht von dem waghalsigen, sinnlosen Unternehmen seinerzeit zum Anlaß, die Gefahrensucher zu befragen. Das Ergebnis seiner Recherche war der stark beachtete Roman „Spielplatz der Helden“ von 1988.
Der Ausgangspunkt zu Jon Kracauers Buch „In die Wildnis“ ähnelt der Entstehungsgeschichte des Köhlmeierschen Romans. Im August 1992 wurde die Leiche eines jungen Mannes in der Wildnis von Alaska gefunden, in die er ein paar Monate zuvor mit kaum mehr als einem Sack voll Reis aufgebrochen war. Der Wissenschaftsjournalist Kracauer hatte von dem rätselhaften Fall in der Zeitschrift Outside berichtet.
War der Verhungerte vom Stampede Trail ein unvorsichtiger, von Todessehnsucht getriebener Desperado? Nach dem Erscheinen von Kracauers Artikel meldeten sich Zeugen, die dem eigenwilligen Tramper auf seinem Weg in die Einsamkeit begegnet waren. McCandless war zuvor kreuz und quer durch die USA gereist, um schließlich die Herausforderung Alaska anzunehmen. Soviel in Erfahrung zu bringen war, hatte Christopher Johnson McCandless auf seiner Ein-Mann-Expedition tödliche Fehler gemacht. War dieser verausgabungshungrige Abenteurer etwas anderes als ein Spinner, und was brachte ihn dazu, dem Lockruf der Wildnis zu folgen?
Wie Köhlmeier von den Alpinisten, so zeigt sich auch Jon Kracauer fasziniert von dem aberwitzigen Unternehmen des Naturextremisten. Was treibt einen wie ihn zur äußersten Grenzerfahrung? Christopher Johnson McCandless war ein begabter Student und ein talentierter Musiker. Auf die Menschen, denen er während seiner zweijährigen Wanderschaft begegnete, übte er eine starke Anziehungskraft aus. Alexander Supertramp, wie er sich nun nannte, war ein Eigenbrötler, aber alle beschrieben ihn, der seine letzten Erparnisse der Wohlfahrt gespendet hatte, als freundlich, hilfsbereit und gesellig.
Jon Kracauer trägt Mosaiksteinchen zu einem Psychogramm einer zwanghaften Suche nach extremen Grenzerfahrungen in einer Welt mit Air-condition zusammen, aber es gelingt ihm nicht, sie zusammenzusetzen. Anders als Köhlmeier, der den Grönländern aus der Tiroler Provinz das Geheimnis ihrer Torturen ablauschte, möchte Kracauer mit seinem Helden ins Gespräch kommen.
Mit literarischen Eremiten wie Jack London, Leo Tolstoi und Henry David Thoreau, dessen Buch „Walden. Ein Leben in den Wäldern“ McCandless während seines Trips in die Wildnis gelesen hatte, versucht Krakauer McCandless einzugemeinden unter die Sinnsucher einer höheren Wahrheit. Suchen wir nicht alle unser Fleckchen private Wildnis oder möchten es wenigstens? Köhlmeiers Roman konnte seinerzeit gelingen, weil er sich weitgehend journalistisch wahrnehmend verhielt. Kracauers Text ist spannend, wo er sein Material zusammenträgt, ehe es sich in schwärmerischer Naturmystik verliert. Harry Nutt
Jon Kracauer: „In die Wildnis“. Malik Verlag, 302 S., 39,80 DM
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