: Internationale Junkie-Szene
Drogensüchtige finden sich längst auch unter Immigranten, ihre Zahl nimmt zu. Identitätsprobleme und Arbeitslosigkeit sind Ursachen ■ Von Ekkehard Schmidt
Sie stehen in Köln an der Kalker Post, in Stuttgart in der U-Bahn Rotebühlplatz und in Frankfurt an der Gallusanlage: schwarzhaarige Typen mit dunklem Teint, öfters mit Dreitagebart, immer mit viel Zeit. Gerade dieses unerklärliche Warten zeigt, daß es sich um Dealer auf der Suche nach Kunden handeln muß. Die Kundschaft, das sind sicher die tätowierten Blonden mit der Szenefrisur „Vokuhila“ – vorne kurz, hinten lang.
Was für ein Klischee: Daß es auch eine Menge hellhäutige Dealer gibt und die Kunden aus der Immigrantenszene kommen, wird häufig übersehen. In Erfolgsmeldungen „im Kampf gegen die Rauschgiftsucht“ ist viel von der „Turkish-Connection“, Kindern als PKK-Drogenkurieren und so weiter die Rede. Eine erstaunliche Ignoranz hat sich um eine bestimmte Usergruppe gebildet: türkische Fixer mit glückspielsüchtigen Vätern und massiv Medikamente mißbrauchenden Müttern, serbische Alkoholiker oder italienische Kids, die kiffen.
Bewußt tabuisiert wird nicht unbedingt. In Fachkreisen will man aber an keiner neuen Opferidentität stricken, das sensible Thema nicht der sensationsgierigen Pressemeute zum Fraß vorwerfen. Andere nehmen einfach nicht wahr, was nicht sein darf: das Scheitern der Integration, das sich kaum massiver manifestieren kann als im Absacken in die Sucht.
Eduard Lintner, der Bonner Drogenbeauftragte, hat 1996 wieder zählen lassen. Die Bilanz: bundesweit 1.712 Drogentote, 300.000 Konsumenten harter Drogen. 150.000 davon schwerstabhängig. Wie viele davon ausländischer Herkunft sind – dazu lägen keine Daten vor, sagt ein Mitarbeiter Lintners gegenüber der taz. Man wolle nicht stigmatisieren. Vielleicht könne man solche Angaben im Rauschgiftjahresbericht der Polizei finden, rät er. Da geht es allerdings um die Kriminalstatistik. „Bedaure“, sagt auch eine Mitarbeiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, „wir wollen da bewußt keinen Unterschied machen.“ So gibt es nur Schätzungen. Der Hohenrodter Therapeut Dietmar Czycholl beziffert die Zahl der abhängigkeitskranken MigrantInnen bundesweit auf 135.000 bis 225.000. Nach Statistiken der Stuttgarter Drogenberatungsstelle „Release“ nimmt die Zahl der Ausländer in der Stuttgarter Szene rapide zu. Von 290 Konsumentenneuzugängen im Jahr 1995 hatten 92 keinen deutschen Paß (rund 30 Prozent), darunter 28 Italiener und 18 Türken. Doppelt so viele wie 1992. Repräsentativ sind die Zahlen nicht, dennoch sieht „Release“ sie als „Beleg für unsere Erfahrungen, daß ausländische Jugendliche und junge Erwachsene nach wie vor große Identitäts- und Integrationsprobleme haben und oft mit Drogenkonsum darauf reagieren“.
Neu ist das Phänomen nicht: „Das gab's schon in den 70ern, da waren manche schon so weit. Nur wird es jetzt erst bemerkt“, sagt Shirin Z., eine kurdische Politologin aus Köln. Ihr Bruder habe damals harte Drogen genommen, sagt sie so kurz, daß klar ist: Sie will keine Nachfragen. Erçüment Toker vom Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendarbeit beobachtet seit über 20 Jahren die Bochumer Jugendszene. Im Vergleich zu den 70er Jahren sei vor allem die Beschaffungskriminalität und die Zahl ausländischer Dealer enorm gestiegen. In den 90er Jahren hat er eine deutliche Zunahme von Suchtverhalten registriert. „Wir beobachten, daß immer mehr nichtdeutsche Jugendliche im frühen Alter mit verschiedenen Drogen in Berührung kommen und daß der Drogenkonsum zunimmt“, sagt Toker. Die Klientel, die Kontakthilfe sucht, sei eine andere als in den 80er Jahren. „Die dritte Generation hat es offenbar schwerer als die zweite.“ Bei der Begründung ist er zurückhaltend und betont, daß man differenzieren muß.
Deutlich ist aber, daß Drogenkarrieren häufig in der Pubertät beginnen. „Drogenexperimente sind in dieser Zeit normal“, hat die Saarbrücker Sozialpädagogin Katja Fink beobachtet. „Es beginnt mit 13 oder 14 mit Zigaretten und Alkohol, mit 16 kennt dann irgendeiner irgendwen, der die Pieces vorbeibringt, und dann wird das in der Gruppe ausprobiert.“
Die wenigsten bleiben beim Drogenkonsum. 1996 hatte Fink jedoch einen jungen Türken zu betreuen, der später „Tickets geschmissen, Psyllo-Pilze probiert und langsam abgedriftet“ sei. Die Kids erleben die Vormacht einer triebfeindlichen Erziehung, die ihre Wunsch- und Befriedigungsmöglichkeiten zugunsten einer Leistungsdressur beschneidet. Die Kombination „Kind sein“ und „ImmigrantIn sein“ verschärft die normalen Pubertätsprobleme und kann für enstehende Suchtstrukturen verantwortlich sein.
„Migrationstypische Faktoren“ erhöhen offenbar das Risiko. Suchtfördernd wirken Lebens- und Entwicklungsbedingungen mit Ausgrenzungen und unangepaßter elterlicher Erziehung, verschärft durch Arbeitslosigkeit. In der psychosoziologischen Literatur ist viel die Rede von biographischen Brüchen und dem großen „Identitätsdruck“, dem vor allem muslimische Jugendliche ausgesetzt sind. Sie sehen sich zwischen eigenethnischen und fremdethnischen Denksystemen und Erwartungen hin- und hergerissen. Die deutsche Umwelt erwartet ihre Assimilierung, die Eltern das Festhalten und Sicheinordnen in ihre traditionellen Verhaltensweisen und Normen. Der Widerspruch zwischen beiden kann zu ernsten Problemen beim Aufbau einer stabilen Identität führen. Verunsicherung ist das vorherrschende Lebensgefühl. Sucht bedeutet dann „der Schlußpunkt einer Suche nach Fluchtwegen aus paradoxen Verhältnissen und Loyalitätskonflikten oder ein Protest auf scheinbar nicht veränderbare Verhältnisse“, resümiert ein Betreuer.
Was Suchtgefährdung betrifft, ist der von muslimischen Mädchen verlangte Gehorsam durchaus stabilisierend, weil ihnen die Mütter klare Vorstellungen von Lebenszielen und Lebenssinn vermitteln, wenn auch nach dem traditionellen Schema. Sie sind eher von Mager- oder Eßsucht betroffen – ein die Situation akzeptierendes Verhalten. Wenn sie allerdings rebellieren und noch dazu härtere Drogen nehmen, sind die Konsequenzen in der Regel übler als bei Jungen, hat Erçüment Toker bei einigen – allerdings seltenen Fällen – in Bochum beobachtet. „Sie werden aus der Familie ausgestoßen, landen auf der Straße. Und wenn Mädchen in Drogenabhängigkeit geraten, rutschen sie oft total ab.“
Was das bedeuten kann, läßt sich am Berliner Autostrich rund um die Kurfürstenstraße beobachten. Unter den dort arbeitenden 800 „Nadelnutten“ finden sich auch Migrantinnen. Das Problem der Söhne hängt eher damit zusammen, daß der Vater weder einen passenden Lebensentwurf vorgeben noch eine Vorbildfunktion erfüllen kann. Er wird als defizitärer Malocher erlebt, dessen antiquierte Vorstellungen kaum ernst zu nehmen sind. Kommunikationsprobleme und Entfremdung sind die Regel. Die Söhne wollen ein aufregenderes Leben führen, suchen Kicks wie ihre deutschen Freunde. Zwar können sie diese Freiheit eher ausleben. Die suchtgefährdende Kehrseite ist aber, daß der Widerspruch zu den väterlichen Vorstellungen bald um so deutlicher zutage tritt. Dann knallt es zu Hause.
Bei der Elterngeneration selbst steht der Akohol im Vordergrund. Das Suchtverhalten der älteren MigrantInnen allgemein wird mit „labilisierenden Entwurzelungserfahrungen“ erklärt. Es besteht oft eine Neigung, Illusionen – wie den alten Lebensentwurf der bald bevorstehenden Rückkehr – aufrechtzuerhalten, obwohl dieser Versuch der Sinngebung des Deutschlandaufenthaltes längst nicht mehr trägt. Weicht man chronisch vor solchen Konflikten aus, kann einen der Kreislauf von Hoffnung und Resignation in ein nur kurzfristig stabilisierendes Suchtverhalten treiben. Dazu gehören auch stoffungebundene Suchtformen wie Eßstörungen, Kaufsucht, Workaholism, aber auch Glücksspiel.
Ob Billardhalle, Heroinszene oder das bloße Bier vor dem Fernseher – überall lassen sich Fluchtburgen finden für einsame Ältere mit verlorenen Träumen und desillusionierte Jugendliche. Wo sie Ersatzkrücken zu finden meinen, öffnet sich allerdings in den meisten Fällen das Tor zur Hölle.
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