: „Bemitleiden gibt es hier nicht“
Eines der ältesten deutschen Hospize steht in Halle. Gegründet hat es ein Priester, getragen wird es von ehrenamtlichen Helfern, die wenig davon halten, den Weg zum Tod zu verklären ■ Von Daniela Weingärtner
Die Vorfrühlingssonne fällt durch die gewölbten Glaswände in den großen Aufenthaltsraum. Die Mitglieder der Freitagsgruppe am großen Tisch können sie wie im Tower eines Flughafens fühlen. Freier Blick auf Halles abgeblätterte Rückfronten und Baukräne, aber auch auf Bäume, die bald grün sein werden.
Sie mühen sich mit Jenga, einem Holzspiel aus Schweden. Eben hat die bleiche Frau G. noch allein an der Glasfront gestanden und blicklos auf die Baustelle gestarrt. Jetzt sitzt sie zwischen dem Studenten, der heute das erste Mal hier ehrenamtlich arbeitet, und Schwester Uta im strengen schwarzen Ordensschleier.
Mit äußerster Konzentration, die Augen hinter dicken Brillengläsern fest auf den Turm aus Klötzchen gerichtet, zieht Frau G. ein Holzstück aus der Mitte hervor und setzt es obendrauf. „Allmählich sieht das Ding aus wie Reinhards Zähne nach der Chemo“, murmelt Volker E. Brüllendes Gelächter antwortet ihm. Auch Reinhard K., ein Mittfünfziger in Jeans, Lederweste und buntem, flottem Batikschlips, lacht zahnlos mit.
Vor seiner Krebserkrankung hätte sich der frühpensionierte Eisenbahner wohl kaum träumen lassen, daß er einmal jeden Freitag mit einer älteren Nonne, jungen Pflegern und schwerkranken Menschen basteln und spielen würde. Als ihn der Krankenhauspfarrer nach der Chemotherapie ansprach, war er ziemlich mißtrauisch. Aber seine Arbeitskollegen wollten nichts mehr von ihm wissen. Sogar sein Bruder wandte sich ab. Und der Pfarrer versprach: „Bei uns müssen Sie nicht beten.“
Also meldete sich Reinhard K. doch im Tageshospiz und kriegte „ein bißchen Einblick ins Basteln“, wie er sagt. Er lernte Menschen kennen, die Hilfe anbieten, ohne etwas dafür zu verlangen. Und er lernte, über seine Gefühle zu sprechen.
Seit zwei Jahren kommt Reinhard K. jeden Freitag, wenn seine halbe Lunge mitmacht. Das bedeutet Trost und Ablenkung, doch oft auch Trauer und Belastung. Fünf Mitglieder der Freitagsgruppe sind seither gestorben, aber „bemitleiden gibt's hier nicht“, sagt er.
Auch der 42jährige Volker E. hält nichts vom Jammern. Fünfzehn Jahre lang hat ihm sein Magen Probleme gemacht, zu den Ärzten ist er nicht gern damit gegangen. Denn Volker galt als Unruhestifter, als einer, der in den Geschichtsseminaren „provokative Thesen des Westfernsehens“ vertritt. Und Provokateure sind bekanntlich auch Simulanten – sagten die Ärzte.
Als Volker letztes Jahr endlich eine Magenspiegelung machen ließ, war es zu spät. Der ganze Magen mußte raus. Dann kam die Chemo, Haarausfall, die Freundin weg. Aber weil Volker nun mal nichts vom Jammern hält, hat er aus dieser dunkelsten Zeit auch die schrägsten Anekdoten auf Lager. Die von dem alten Mann im Kaufhaus zum Beispiel, der mit dem Stock auf ihn losging, weil er ihn für einen Skinhead hielt. Oder die vom Besuch bei Bekannten, die fassungslos auf seine Platte starrten. „Nicht, daß ihr denkt, der Volker ist Nazi“, sagte einer beruhigend, „der hat bloß Krebs.“
Heute denkt Volker, daß er es schaffen kann, gesund zu werden. Er legt ein Hölzchen auf den Jenga-Turm und sagt nachdenklich: „Das Hospiz war einer der Bausteine für die Pyramide, die nach oben führt.“
Heinrich Pera, der Priester im Freizeitlook, zierliche Designer- Brille auf der riesigen kantigen Nase, wäre von diesem Bild begeistert. Wie viele Pfarrer liebt auch er bildliche Vergleiche und bemüht sie ständig, wenn er Besuchern seine Hospiz-Idee erläutert. Jahrelang hat er Menschen und Geld gesammelt, um in Halle eine Struktur für menschenwürdige Sterbebegleitung aufzubauen. Aber Hospiz bedeutet für ihn viel mehr als ein würdiger Weg zum Tod: Für ihn ist die Hospiz-Bewegung „die größte Bürgerbewegung Deutschlands“. Und sie soll noch Größeres einleiten: einen neuen Gesellschaftsentwurf, ein Wertesystem, das das Konzept der Käuflichkeit ablöst.
Eigenständigkeit ist ihm wichtiger als schnelle Erfolge. Das Hospiz Halle soll sich treu bleiben, getragen vom Engagement der Bürger, unabhängig von staatlichen Finanzspritzen, unabhängig auch von der katholischen Kirche. Zwar waschen die katholischen Schwestern vom Elisabeth-Krankenhaus die Hospiz-Wäsche und liefern das Essen. Zwar zahlen Bund und Land für die Ausstattung einer Station mit acht Betten, die im März eröffnet wird. Die deutsche Krebshilfe kommt für das Gehalt der festangestellten Pflegekräfte auf. Aber Heinrich Pera schwört auf das Ehrenamt als tragende Säule der Hospiz-Idee.
Inzwischen gibt es mehr als 400 Hospiz-Initiativen in Deutschland. Nordrhein-Westfalen gilt mit 14 stationären Einrichtungen als Musterland der Hospiz-Bewegung. Aber nur die Hallenser haben es geschafft, Hausbetreuung, stationäre Pflege und Tagesgruppen miteinander zu verzahnen. Sie können auf mehr Erfahrung zurückgreifen als die meisten, denn Halle hat eines der ältesten Hospize Deutschlands.
50 ehrenamtliche Helfer besuchen regelmäßig 50 bis 60 Patienten zu Hause und im Krankenhaus oder arbeiten im Tageshospiz mit. Die meisten kommen aus sozialen Berufen. Gerade hat Pera einen Vortrag vor Medizinstudenten gehalten und wieder 18 junge Leute für die gute Sache gewonnen. „Hier erlangen sie Kompetenz, die das Studium nicht vermittelt. Teamfähigkeit. Schmerztherapie. Die Begegnung mit dem Sterben, Tod und Trauer.“
Jürgen Hoppe arbeitet heute zum ersten Mal in der Freitagsgruppe. Nach dem Selbstmord seines Bruders hat er sich bei Pera Rat geholt. Jetzt will er anderen helfen, auch Neugier ist im Spiel, „über die Leute was zu erfahren, über ihre Biographie“. Auf mindestens ein Jahr hat der 24jährige Student der Erziehungswissenschaften seine Freitage fürs Hospiz eingeplant. Am Ende dieses ersten Tags entspannt sich sein kindlich- rundes Gesicht: „Es war eigentlich ganz locker. Ich hab' es mir schlimmer vorgestellt.“
Gegenüber westdeutschen Hospiz-Gruppen zeigt Heinrich Pera, der kritische Priester aus Halle, gesundes Selbstbewußtsein. „Die meisten Tageshospize mußten wieder schließen, weil die Patienten fehlten. So was muß von unten wachsen, durch die ambulante Betreuung. Wenn wir sechzig besuchen, kommen vielleicht am Ende zwanzig.“ Gönnerhafte westdeutsche Sozialbewegte sind für ihn ein rotes Tuch. Er schnaubt, wenn er nur davon spricht: „Als die 1990 herkamen und uns zeigen wollten, was Selbsthilfegruppen sind...“ – da war er zu Recht empört. Denn Selbsthilfegruppen für Krebs- und Dialysepatienten organisierte der Krankenhauspfarrer Pera schon Ende der 70er Jahre.
1969 hatte er in Polen den Hospiz-Gedanken kennengelernt. Cicely Saunders, die englische „Mutter der Hospiz-Idee“, war mit einem Polen verheiratet. So verbreitete sich ihr Anliegen auch im Heimatland ihres Mannes. 1985 begann Pera in Halle die Hausbetreuung für Sterbende aufzubauen. Nach Polen ließen sie ihn damals schon lange nicht mehr reisen. Über Mazowiecki hatte er Kontakte zu Solidarność aufgebaut, sein Hospiz-Leitfaden war auf polnisch erschienen, in der DDR aber nicht. Die Hospiz-Idee galt den DDR-Oberen als subversiv, und nach Peras Überzeugung ist sie das auch. Wer sich gründlich damit auseinandersetzt, daß sein Leben endlich ist, für den werden Diktatur und Kapitalismus gleichermaßen fragwürdig.
Aber auch die römisch-katholische Hierarchie hat ihre Schwierigkeiten mit den Thesen des Priesters, der Krankenpflege gelernt hat. „Für mich geht Seelsorge über die Haut“, sagt Heinrich Pera und beschreibt drastisch, was es für einen gläubigen Katholiken bedeutet, wenn der Priester „mit seinen geweihten Händen mit anpackt und Katheter legt“.
Süßliche Sprüche zum Thema Sterben sind Pera zuwider. Da liegt er auch mit manchen Buddhisten über Kreuz. „Wer mit Sterbenden zu tun hat, der wird schmutzig, der kämpft mit seinem Ekel – wir baden nicht täglich in Erleuchtung.“
Der 28jährige Thomas, der die Pflegedienste koordiniert, stimmt ihm aus vollem Herzen zu. Er gehört zur Sargdeckel-Brigade. So heißen die Leute vom Hospiz im Krankenhaus-Jargon. Und wenn jemand den schlaksigen Thomas aus der Sargdeckel-Brigade fragen würde, was ihm im Leben der größte Greuel ist, würde er vielleicht antworten: „Apfelmilchreis. Weil Frau G. sich aus der Küche des Elisabeth-Krankenhauses gerade Apfelmilchreis bestellt hat. Dann würde er nachdenken und sagen: Noch schlimmer als Apfelmilchreis sind die vielen guten Menschen in der Hospiz-Bewegung.
Thomas fährt gelegentlich mit seiner Kollegin Gabi von Halle nach Köln-Lindenthal. An der Uniklinik dort hat die Deutsche Krebshilfe eine Modellstation für Palliativ-Medizin eingerichtet. Hier lernen Ärzte, was sonst in der deutschen Mediziner-Ausbildung zu kurz kommt: Wie man die Schmerzen eines Patienten lindert, wenn die therapeutische Kunst am Ende ist. Ärzte fühlen sich oft wütend und machtlos, wenn sie dem Tod gegenüberstehen. Sie begreifen sich als Lebensretter, nicht als Sterbebegleiter. Dann sind die Patienten und ihre Angehörigen im letzten Lebensabschnitt allein mit den körperlichen und seelischen Schmerzen.
Zur Modellstation in Lindenthal gehört ein Seminarbetrieb. Thomas und Gabi, festangestellte Pfleger im Hospiz Halle, haben dort gelernt, Sterbenden den letzten Lebensabschnitt so angenehm wie möglich zu machen. Sie haben gelernt, die Schmerztherapie richtig anzuwenden, die ein Arzt vorher auf der Palliativ-Station für diesen Patienten festgelegt hat. Sie wollen, wie Thomas sagt, die vielen kleinen Tode aus der Welt schaffen, die Sterbenskranke durch unsachgemäße Pflege erleiden.
Im Seminar in Köln also hat Thomas auch wieder ein paar Hospiz-Bewegte getroffen. Weiße Blätter wurden ausgeteilt. Jeder sollte malen, was er sich unter Sterben vorstellt. Bei der Erinnerung verzieht Thomas angewidert das blasse Gesicht und fährt sich müde durch die Locken. „Da malen die Sonnenuntergänge! Wenn einem Patienten der Tumor zum Gesicht rauswächst, das ist nicht friedlich und still – das ist Scheiße! Sterben ist Scheiße!“
Thomas fordert, daß es für Hospiz-Mitarbeiter eine einheitliche Ausbildung geben sollte. Vielleicht wird Halle nach Kölner Vorbild bald eigene Seminare in Palliativ-Pflege anbieten. „Da muß ein Standard her. Wenn mein Freund der Sozialromantiker gerade Dienst hat, malt der sonst mit den Patienten Sonnenuntergänge.“
Nichts gegen Sonnenuntergänge. Wenn im Hospiz Halle die Abendsonne durch das milchige Bogenfester in den Meditationsraum fällt, sieht das wunderschön aus. Wer frei ist von Schmerzen und von Todespanik, kann es richtig genießen.
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