piwik no script img

Die Lage war noch nie so ernst

■ Die Regierung am Tiefpunkt ihrer Popularität, die Arbeitslosigkeit auf ihrem Höchststand: Jetzt ist der Kanzler zu jedem Opfer bereit. Er kündigt seine erneute Kandidatur für die Wahlen 1998 an und bekennt: „Mir geht es super“

Berlin (taz) – Die folgende Sendung wird präsentiert von ARD und Diebels: „Ein schöner Tag, die Welt steht still, ein schöner Tag. Komm, Welt, laß dich umarmen. Welch ein Tag!“

Kameraschwenk ins beschauliche Bad Hofgastein. Sigmund Gottlieb rückt ins Bild (ARD), dann Helmut Kohl (CDU). Knallharte Frage gleich am Anfang: „Herr Bundeskanzler, was gedenken Sie gegen die hohe Arbeitslosigkeit zu tun?“ Knallharte Antwort: „Mir geht es super.“ In dem Stil geht es eine halbe Stunde lang. Am Ende dann nimmt Gottlieb noch einmal seinen ganzen Mut zusammen: „Herr Bundeskanzler, treten Sie 1998 als Kanzlerkandidat an?“ Kohl: „Ganz klar, ja.“ Gottlieb bleibt die Stimme weg; er ist immerhin in der CSU. Im Hintergrund verhaltener Jubel. Jemand ruft „Freibier“. Aus dem Konrad-Adenauer-Haus wird Peter Hintze, der Bonner Diebels-Vertreter, live zugeschaltet: „Kohls Entscheidung ist ein guter Tag für die CDU, für Deutschland und Europa.“ Vor allem für die Welt! Welch ein Tag! Um mit Konrad Adenauer zu sprechen: „Die Lage war noch nie so ernst.“ Welche auch immer.

Über die Motive seiner Entscheidung hat der Bundeskanzler die Zuschauer der Sendung „Farbe bekennen“ genauestens informiert: „Ich trete an, weil ich glaube, daß ich eine Verpflichtung habe, dies in der jetzigen Situation zu tun.“ Ein deutscher Mann tut, was er tun muß. Und wer war eingeweiht? Er selbst? „Ich habe die Entscheidung sehr genau und sorgfältig überlegt.“ Und Hannelore? „Ich habe das mit meiner Familie abgesprochen.“ Seine Partei? Seine politischen Freunde? Die wissen von nichts. Aber Kohl ist Kumpel. Er kandidiere nur unter der Voraussetzung, „daß meine Partei und die politischen Freunde das wollen. Das ist keine einzelne Entscheidung auf dem Olymp.“

Seine Partei und die politischen Freunde konnten zunächst gar nicht sagen, ob sie das wollen. Sie schnarchten fröhlich vor sich hin. CDU-Generalsekretär Peter Hintze war leicht erkrankt, Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble in Urlaub, CSU-Landesgruppenchef Michael Glos für Stunden nicht erreichbar. Bei den Bündnisgrünen und der PDS hob längere Zeit nicht einmal jemand das Telefon ab.

Den ersten überraschenden Kommentar gab dann doch der ewige Kronprinz Wolfgang Schäuble ab. Kohls Entschluß sei eine „gute Entscheidung für Deutschland“. Gerade in einer Zeit schwieriger gesellschaftlicher Umbrüche, wichtiger politischer Entscheidungen („Mir geht es super“) und bedeutender außenpolitischer Veränderungen, so Schäuble, brauche Deutschland „einen Kanzler mit großer Durchsetzungskraft und Autorität“.

FDP-Chef Wolfgang Gerhardt wollte auch in dieser schönen Stunde nicht verleugnen, daß er einst als Bildungspolitiker Karriere gemacht hat: „Ich habe seine persönliche Entscheidung nicht anders erwartet“, erklärte er, „deshalb kommt seine Entscheidung für mich nicht unerwartet.“ So gesehen: für uns auch nicht. Die SPD tat das, was sie am besten kann: warten. „Noch 77 Wochen Helmut Kohl“, zählte Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering.

Die Bürger in diesem unserem Lande haben die Entscheidung Kohls weniger gefaßt aufgenommen. 16 Menschen haben in einem offenen Brief an den Kanzler sogar Massenselbstmord angekündigt, falls die Bundesregierung nicht bis zum 13. April zurücktritt. „Wir sind der Ansicht, daß die Zustände in unserem Land unter Ihrer Regierung untragbar geworden sind und jeder freiheitlich-demokratischen Grundordnung widersprechen“, heißt es in dem Schreiben. Die Politiker würden verhindern, daß dem sozial schwächeren Teil der Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein möglich sei. Die Regierung drücke sich „in selbstgefälliger Pose um ihre Verantwortung für jeden einzelnen Bürger“. Sollte sie nicht ihren Rücktritt erklären, wollen sich die Unterzeichner „zum Zeichen des offenen Protestes aus freiem Willen am 14. April 1997 auf einem der geschichtsträchtigsten Plätze Deutschlands“ verbrennen. Welch ein Tag!

Das BKA konnte bis gestern nicht feststellen, ob das Schreiben echt ist und ob es sich bei den 16 Unterzeichnern um oppositionsmüde Mitglieder der SPD handelt.

Jens König Tagesthema Seite 3

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen