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Bücher als Kultobjekte

■ Für Literaturfreunde ist die Stiftsbibliothek von St. Gallen ein Paradies

Von außen macht sie nicht viel her, die Stiftsbibliothek. Ein unscheinbares Gebäude im Klosterbezirk von St. Gallen, erdrückt von der imposanten Stiftskirche. Die Sensationen offenbaren sich, nachdem ich die Filzpuschen übergestreift habe. Rutschend bewältige ich die Eingangsstufe zum Büchersaal und hebe den Kopf. Eine barocke Innenlandschaft, die in ihrer Harmonie fast unwirklich anmutet, verschlägt dem Besucher die Sprache.

Bücher als Kultobjekte: Dreißigtausend stehen und liegen zwischen all den Schnörkeln, Gemälden, Schnitzereien und Intarsien, weitere siebzigtausend befinden sich im Archiv. Viele von ihnen sind älter als dieser um 1750 erbaute schönste Barocksaal der Schweiz, darunter eine Menge Handschriften aus der Zeit vor dem Buchdruck.

Schon im Frühmittelalter war das Galluskloster berühmt für die enorme Größe seiner Bibliothek mit damals über vierhundert Bänden. Die meisten kamen aus dem eigenen Skriptorium. Es gab und gibt aber auch eine Reihe irischer Handschriften, Schenkungen von Mönchen, die auf der Pilgerreise nach Rom bevorzugt hier Station machten. Daß Iren gerne in St. Gallen einkehrten, kam nicht von ungefähr: Urheber dieses bedeutenden Kulturzentrums der mittelalterlichen Welt war der irische Wandermönch Gallus, der 612 wegen einer Krankheit hier seßhaft wurde und sich in der Zeit seiner Einsiedelei vor allem den Büchern und Schriften widmete.

Das Evangelium longum ist der prächtigste unter den Methusalems und daher dauerausgestellt. Das 1.100 Jahre alte Gesamtkunstwerk besitzt einen Einband aus Eichenholz mit Elfenbeinauflage. Mit Wachs überzogen, dienten die Tafeln zuvor Karl dem Großen zum Schreiben, „der sie beim Schlafengehen neben sein Bett legte“. Die Elfenbeinschnitzereien und die mit Edelsteinen besetzten Goldbeschläge sind ein Werk Tuotilos, eines „bärenstarken Mönches, eifrig im Chordienst, im verborgenen aber voller Tränen und ein vielseitiger Künstler“.

Die Chronik verrät, daß der gewichtige Band 954 von einem Mönch aus Wut über seinen Abt zu Boden geschleudert wurde und repariert werden mußte. Röntgenuntersuchungen bestätigen das.

Noch älter und textgeschichtlich bedeutsamer sind die Handschriften, Fragmente und Palimpseste in den übrigen Vitrinen, diesjährig unter dem biederen Motto „Kirchenväter in St. Gallen“ zusammengestellt. Abschriften der exegetischen, autobiographischen, poetischen oder naturwissenschaftlichen Werke eines Augustinus, Ambrosius, Hieronymus, Gregor des Großen und Isidor von Sevillas werden präsentiert. Darunter sind Unikate von im Original verlorengegangenen Schriften.

Doch all diese Bücher hätten für unwissende Besucher zunächst sieben Siegel, wären nicht die sachkundigen Führungen, die mehrmals täglich stattfinden. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter strahlen Offenheit und Engagement aus. Sie erläutern anschaulich und spannend, übersetzen wichtige Stellen und stellen Bezüge her. So machen viele Texte die Hinwendung von der antiken, diesseitig bezogenen Lebenshaltung des carpe diem zu einer christlichen, auf das Jenseits bezogenen deutlich.

Wie aufwendig die mittelalterliche Produktion eines Buches war, wird beim Rundgang durch die Ausstellung ganz nebenbei vermittelt. Bis zu 250 Schafe oder Ziegen mußten für einen Band sterben. Ihre Häute wurden in Kalklauge vom Fell befreit, anschließend in Holzrahmen gespannt und mit einem halbmondförmigen Eisen geschabt sowie zu Blättern geschnitten. Die Farbtinten entstanden aus einem Sud von Dornen und Wein, mit tierischen, pflanzlichen oder mineralischen Zusätzen. Sie wurden in Rinderhörnchen gegossen, die in die Pulte der Schreiber eingehängt waren.

Die exakte Nachahmung der Goldtinte ist bis heute nicht gelungen. Die alten Rezepturen sind untauglich geworden, weil die zeitgenössischen Schafe fetter als früher sind und die Tinte beim Schreiben zerfließt. Für Faksimile-Ausgaben wird das Seitenmaterial aus Tierhaut deshalb imitiert.

Zeit brauchte auch die Ausmalung der Initialen, Miniaturen und Zierkolumnen, wobei die Federkiele immer wieder nachzuspitzen waren. Verwendet wurden viel Purpur, Blau und Grün, weil diese Komposition das erhaben aufgetragene Gold wirkungsvoll betont.

„Sobald ich etwas geschrieben habe, setzen meine Gönner und Neider meine Schriften in Umlauf und übernehmen sich im Lob oder Tadel“, so lautet die Übersetzung des Hieronymus-Satzes, die jeden Autor mit Neid erfüllt. Das Kloster St. Gallen besaß um 885 etwa vierzig Schriften allein von diesem Schriftsteller und Übersetzer. Randnotizen beweisen, daß sie damals eifrig benutzt wurden.

Zumindest die Männerklöster hatten das Monopol der Wissensvermittlung. Viele Handschriften wurden auch in den zwei Schulen der Abtei für den Klosternachwuchs benutzt. Die Schüler schrieben nicht auf das kostbare Pergament, sondern mit Griffeln auf Wachstafeln. Da viele Schwierigkeiten mit dem Latein hatten, entstanden Notizen und später ganze Übersetzungen in Althochdeutsch. Durch diesen Beitrag zur Entwicklung der deutschen Schriftsprache gingen die Gallus- Mönche ebenso wie durch die Erfindung einer musikalischen Notensprache in die Geschichte ein.

Bis heute ist die Stiftsbibliothek für Bücherfreunde und Augenmenschen ein „Seelensanatorium“, so lautet die Übersetzung der griechischen Inschrift über dem Eingangsportal. Das wissen nicht nur deutsche Intellektuelle zu schätzen: Der gesamte im Barock neu erbaute Klosterbezirk wurde als Erbe der Menschheit in die Unesco-Liste eingetragen. Ursula Wöll

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