piwik no script img

Wie Lazarus hat sich die sieche Dame vom Totenbett erhoben

Jahrelang dämmerte Hertha BSC in trostloser Zweitligamittelmäßigkeit dahin. Jetzt stürmt der Berliner Verein das Fußballoberhaus.  ■ Aus Berlin Christian Semler

Von der Millionenbrücke, einer mächtigen Stahlkonstruktion, die das Gleisgewirr am Gesundbrunnen im Berliner Bezirk Wedding überspannt, sieht man heute auf eine gesichtslose Häuserfront der siebziger Jahre. Bis in die späten Sechziger war von hier aus der Blick frei auf einen Teil der „Plumpe“, des Stadions des Berliner Fußballklubs Hertha BSC. Damals griff der Berliner Senat dem bankrotten Unternehmen unter die Arme und erklärte kurzerhand das Stadiongelände zum Bauland.

Wo genau der mystische Ort gelegen hat, an dem einst Hanne Sobeck und seine Leute zwei deutsche Meisterschaften errangen (gegen Giganten wie Schalke und den Nürnberger „Club“), weiß heute so genau niemand mehr zu sagen. Das ergab eine Blitzumfrage rund um die Currybude am U-Bahnhof Gesundbrunnen. Ein paar verwitterte Gebäudeteile stehen noch, und in einem Teil des Areals haben sich die Kicker von „Nord-Nord-West“ eingenistet, ganz wie die Städtebewohner des Mittelalters, die ihre ärmlichen Behausungen in den Ruinen der antiken Monumentalbauwerke errichteten. Aber Nord-Nord-West mit seinen paar Zuschauerreihen und dem improvisierten Billetthäuschen ist geblieben, was Hertha einmal war: ein Traditionsverein, verankert im Mileu des Wedding.

Hertha BSC steht vor dem Aufstieg in die 1. Bundesliga. Elf Spieltage vor Saisonende ist zwar noch nichts entschieden. Aber wenn die Herthaner (43 Punkte) heute abend durch einen Sieg im Olympiastadion Tabellenführer Kaiserslautern (45 Punkte) überrunden, stehen die Chancen nicht schlecht. Wie Lazarus hat sich der Verein vom Totenbett erhoben, wiedererweckt durch die Zuwendungen von Ufa-Bertelsmann, von Entertainment-Profis rational gemanagt, im Spielerstamm mit schwäbischem Kern rundumerneuert: die Aufstiegsmischung aus Bundesliga-Erfahrung und jugendlichem Sturm und Drang.

In der bisherigen Geschäftsstelle in der Heerstraße 25, im Haus der Kaufmännischen Krankenversicherung, wo es aussah wie im Wartezimmer eines stark heruntergekommenen Arztes für Allgemeinmedizin, werden Kisten und Koffer gepackt: für den Umzug in Richtung neues Vereinshaus, nähe Olympiastadion, wo sich, vor meist trostloser Kulisse, das Auf und Ab des Vereins in den letzten 20 Jahren abgespielt hat.

Hertha BSC ist zu einem ortlosen Gebilde geworden. Der Verein hat seine alte Proll-Basis zwischen Wedding und Prenzlauer Berg verloren und muß jetzt auf neue Attraktivität als „Hauptstadt-Verein“ setzen, mithin auf ein launisches, unzuverlässiges Publikum, das unverschämterweise nur auf Spitzenfußball reagiert. Es war dieser Umstand, den der Professor für öffentliches Recht und Mitglied des Hertha-Aufsichtsrats, Rupert Scholz, kürzlich zu der Bemerkung veranlaßte, die Berliner nähmen so etwas wie einen Spitzenverein als Naturrecht in Anspruch – ohne eigenes Verdienst oder Anstrengung.

„Hertha, das sind die Doofen“, hieß es bis vor kurzem, wenn nicht gar ein alter, auf die Betriebsmannschaft von Möbel-Hübner gemünzter Vers umgedichtet wurde in „Herthas Jungs, die ackern fleißig, doch zum Schluß stehts null zu dreißig“. Jetzt, wo Hertha einen Aufstiegsplatz besetzt hält, ist die Stimmung umgeschlagen. Noch tönt der melancholische Lieblingssong der Fans „Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause woll'n wir nicht“ (eine Nachdichtung von „It's a heartache, nothing but a heartache“) durch die deprimierend leeren Ränge des Olympiastadions. Hertha habe, wie Trainer Jürgen Röber gegenüber taz-Redakteur Peter Unfried scharfsinnig bemerkte, eigentlich keine Heimspiele. Denn der düstere, gewalttätige, einsturzkatastrophenschwangere Bau des Nazi-Architekten March flößt Hertha-Gegnern nur in zweierlei Gestalt Angst und Schrecken ein: entweder vollständig leer oder bis zum Bersten gefüllt.

Zum Spiel gegen Kaiserslautern ist der zweite Teil dieser Alternative angesagt. Auf den Jacken so mancher Hertha-Fans ist zwar, in bewährter Tradition der SS, zu lesen: „Unsere Ehre heißt Treue“. Aber das Gros des Publikums hängt minder strengen Ehrbegriffen an. Wie im alten Rom gilt dort vae victis: Wehe den Besiegten!

Der alerte Aufsichtsratsvorsitzende von Hertha und Spitzenmanager von Bertelsmann, Rolf Schmidt-Holtz, hält eine regionale, ja bundesweite Attraktivität von Hertha ähnlich der der Münchner Bayern für machbar. Viel näher aber liegt die Frage, ob es Hertha BSC gelingen wird, in Berlin ein neues Stammpublikum zu rekrutieren. 1990 versäumte man, beliebte Stars aus dem Osten zu engagieren, obwohl die vor dem Präsidium des Berliner Klubs förmlich herumlungerten. Einen Teil der Anhängerschaft der beiden Ostberliner Traditionsvereine, Union und BFC, hätte man so ködern können. Jetzt, im Zeichen der neuen Ost-West-Spaltung, ist dieser Weg verbaut.

In den U-Bahn-Entlastungszügen nach Herthas Heimspielen bleibt hinter dem Bahnhof Gleisdreieck nur ein dünnes Rinnsal blauweißbeschalter Fans übrig. Und auch dort wird nach der vormaligen Sektorengrenze leise, ironisch, aber verständnissinnig „Dy, Dy, Dy, na, mo, mo, mo!“ skandiert. Womit auf den FC Dynamo angespielt wird: Erich Mielkes Stasi-Verein, den Vorläufer des BFC, den bestgehaßtesten Verein der DDR mit der (außer Union) rabiatesten Fangemeinde. Wie aus Klaus Farins Interviewsammlung mit Ostberliner „Hools“ hervorgeht, sind auch dort die Kontakte zu den Kollegen bei Hertha marginal. Aber wenigstens dieser Umstand kann sich ändern – sicher nicht zur Freude von Schmidt- Holtz und seiner Vision vom gepflegten, weltstädtischen, weltoffenen Fußball, der Berlins Funktion, „Visitenkarte der Nation“ (Helmut Kohl) zu sein, gerecht wird.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen