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Freispruch aus Mangel an Beweisen

Monika Böttcher wurde gestern vom Gießener Landgericht vom Vorwurf entlastet, vor fast elf Jahren ihre beiden Töchter ermordet zu haben. Staatsanwaltschaft und Nebenklage gehen in Revision  ■ Aus Gießen Heide Platen

Zehn Minuten nach neun verkündet der Vorsitzende Richter Wilfried Weller im Sitzungssaal 207 des Gießener Landgerichts: „Das Urteil des Fuldaer Landgerichts vom 8.1. 1988 wird aufgehoben. Die Angeklagte wird freigesprochen.“ Monika Böttcher sinkt in den Armen ihres Verteidiger Gerhard Strate zusammen, klammert sich an ihn, die Beine knicken ihr weg, sie weint und weint.

Strates Hamburger Kollege Uwe Maeffert ruft nach einem Arzt, fürsorgliche Wachtmeister stützen die Frau, führen sie aus dem Saal ins Richterzimmer. Monika Böttcher habe, sagt eine von ihnen später, „kaum noch Luft bekommen“. Und das versteht sie gut: „Die ganze Anspannung von über zehn Jahren war auf einmal weg. Das mußte einfach raus.“

Das Gericht stellte in seiner einstündigen Begründung dann fest, daß einige berechtigte Zweifel an der Unschuld der Monika Böttcher, geschiedene Weimar, bleiben. Diese aber hätten zu einer Verurteilung nicht ausgereicht. Es sei nicht erwiesen, daß sie am Vormittag des 4. August 1986 im mittelhessischen Röhrigshof-Nippe ihre beiden Töchter Melanie (7) und Karola (5) in ihr Auto geladen, erstickt, erwürgt und schließlich an verschiedenen Plätzen am Straßenrand abgelegt habe.

Akribisch setzte sich die Kammer mit jedem einzelnen der Punkte auseinander, die vor über neun Jahren zur Verurteilung wegen Doppelmordes und zu lebenslänglicher Haft geführt hatten. Dabei klang die Schelte über das erste Urteil unüberhörbar an. Das damalige Gericht hatte sich nicht nur über die Verteidigung, sondern auch über die Anklage hinweggesetzt und eine eigene Tatvariante konstruiert. Richter Weller machte sich gestern daran, die tatsächlich bekannten Fakten zusammenzutragen. Er ließ allerdings auch erkennen, daß das Gericht „erhebliche Zweifel“ an der Unschuld der Angeklagten habe. Diese seien aber nicht ausreichend für eine Verurteilung. Der sogenannten „Nachtversion“, nach der die Angeklagten nach wochenlangem Schweigen ihren Mann beschuldigte, die Kinder nachts in ihren Betten getötet zu haben, widmete die Kammer wenig Raum. Sie wollte sie aber auch nicht ganz ausschließen. Andere Ungereimtheiten ließ sie so stehen. Diese seien jedoch schon wegen der inzwischen vergangenen Zeit nicht mehr zu klären. Die Erinnerung der Zeugen sei „verblaßt“ oder durch permanente Medienabfragen verfälscht, manche Zeugen seien inzwischen verstorben.

Das Gericht folge auch hier, im Gegensatz zu der Fuldaer Kammer, in weiten Teilen der psychologischen Gutachterin Elisabeth Müller-Luckmann. Sie hatte das von Laien als „untypisch“ bezeichnete Verhalten einer Mutter, die ihre toten Kinder findet, schlüssig erklärt. Schock und Schuldgefühl könnten durchaus dazu führen, daß Menschen scheinbar nebensächliche Dinge tun, statt schreckliche Ereignisse wahrzunehmen und auf sie angemessen zu reagieren. Monika Böttcher hatte am Vormittag des Tattages keinem ihrer Verwandten etwas gesagt, war hingegen in den Ort gefahren, um bei Post und Bank Rechnungen zu bezahlen.

Schuldgefühle wegen ihres amerikanischen Liebhabers und deshalb, weil sie in der Tatnacht in der Disco war, hätten durchaus ein Grund dafür sein können, daß sie in der Folgezeit gelogen, ihren Mann gedeckt und statt dessen anonmye Briefe geschrieben habe.

Es sei, so das Gericht, allerdings auch nicht ganz auszuschließen, daß ihre „Nachtversion“ „nicht die ganze Wahrheit“ sei. Aber sie habe sich immerhin von zwei Sachverständigen „freiwillig und kooperativ“ befragen lassen. Ihre Lügerei, so Richter Weller, sei ein nicht unwesentlicher Grund für das erste Urteil und die inzwischen verbüßten neun Jahre Haft gewesen. Deshalb trage die Staatskasse zwar die Kosten des Verfahrens, Haftentschädigung stehe ihr aber wegen ihrer Mitschuld daran nicht zu.

Das Motiv der Abhängigkeit von ihrem Freund, dem US-Soldaten Kevin Pratt, dem die Kinder im Wege gewesen seien, räumte die Kammer gestern ganz vom Tisch. Vorherige Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden seien am Tattag ausgeräumt gewesen. Und dann begab sich der Vorsitzende in einen Bereich, den er selber die „reine Spekulation“ nannte: „Fairerweise“ müsse gesagt werden, daß auch der Ehemann Reinhard Weimar „an diesem Tag sehr böse auf Frau Böttcher war“. Und der Mann habe sich sicher „auch etwas überlegt“, um die Trennung und Scheidung zu verhindern.

Relativ hoch wertete das Gericht ein neues Fasergutachten, das die Verteidigung in Auftrag gegeben hatte. Es habe die Anklage „erschüttert“. Wenn Monika Böttcher die getötete Melanie zum Fundort getragen und dabei „noch einmal an sich gedrückt hätte“, dann hätten auch die Spuren eindeutiger ausfallen müssen. Daß die Kinder kurz vor ihrem Tod noch „ein übliches Kinderfrühstück“ zu sich nahmen, spreche zwar gegen die Angeklagte. Es sei aber nicht auszuschließen, daß sie doch noch nachts etwas gegessen haben.

Es blieben am Ende, so das Gericht, nur zwei Zeugen, die glaubwürdig ausgesagt hätten, die beiden Mädchen am Vormittag noch lebend gesehen zu haben. Deren Aussagen aber „stehen alleine da“ und reichten ebenfalls nicht aus für die „gesicherte Feststellung“, daß die nun Freigesprochene die „Mörderin ihrer Kinder“ sei.

Staatsanwalt und Nebenklage kündigten schon gestern ihre Revisionsanträge gegen das Urteil an.

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