: Kegelbahn im Geisterbahnhof
Das Buch „Dunkle Welten“ erzählt die Geschichte der vergessenen Unterwelt der Stadt: tote Tunnel, verlassene Keller und verschüttete Bunker ■ Bernhard Pötter
Pariser Platz: Beim Ausschachten für das Konferenzzentrum der DG-Bank stoßen Ende 1996 Bauarbeiter auf ein teilweise überflutetes Bunkersystem des ehemaligen Nazi-Ministeriums für Bewaffnung und Munition.
U-Bahnhof Schloßstraße: Beim Warten auf den Zug fragt sich die BVG-Kundin, wozu das leere Gleisbett auf der anderen Seite wohl gut ist.
Breite Straße in Mitte: Bauarbeiter treffen im April plötzlich auf einen unbekannten Keller direkt unter der Fahrbahn.
Die Ereignisse zeigen: Hinter und unter der vertrauten Topographie der Stadt verbirgt sich mehr als nur märkischer Sand: „Dunkle Welten“ von blinden Tunnelstutzen, von verschütteten Bunkern und von vergessenen Grabungen.
In ihrem gleichnamigen Buch liefern die Stadtplaner und Untergrundforscher Dietmar und Ingmar Arnold, Gründer der Arbeitsgemeinschaft „Berliner Unterwelten“, einen Einblick in die verborgenen Innereien der Stadt – mit Fotos von Frieder Salm, die die Atmosphäre eines nüchternen U-Bahnschachts ebenso faszinierend einfangen wie die verwunschene Spannung eines alten Kellergewölbes, das von Baumwurzeln zurückerobert wurde.
Das Buch der Untergrund-Spezialisten, die seit Jahren und inzwischen auch im Senatsauftrag durch vermodernde Keller kriechen, ist keine Anleitung zum Abenteuer- Trip auf eigene Faust. Es ist vielmehr die Geschichte der Untertunnelung Berlins, wo „das Buddeln nicht enden will“, wie im Vorwort schon ein Artikel aus dem Jahr 1896 klagt. Von den Festungsbauten Alt-Berlins und Alt-Cöllns um 1700 über die Keller für Bier und Wein im 19. Jahrhundert bis zum Bau des Tiergartentunnels und den legendären Zehlendorfer Tunnelgangstern spannen die Autoren den Bogen. Vorreiter im Untergrund waren die Wasserversorger und die Brauereien. Es folgten die Entsorger, die ab 1876 die Stadt mit einem Netz von Kanalisation überzogen, das bis heute auf eine Länge von insgesamt 8.500 Kilometern angewachsen ist.
Die eifrigsten Maulwürfe aber arbeiten für die Verkehrsinfrastruktur. Neben den Anfängen eines AEG-Versuchstunnels in Wedding 1891 oder der Spreeunterfahrung per Straßenbahn in Stralau, die 1899 fertiggestellt wurde, beschreibt das Buch auch die Verbannung der Tram in den Untergrund für eine Querung des Boulevards Unter den Linden. Der Grund: Seine Kaiserliche Hoheit wehrte sich seit 1870 dagegen, den „repräsentativen Charakter“ der Straße zugunsten der Fuhrwerke aufzugeben. Die Bahn mußte also, von Norden kommend, zwischen Universität und Neuer Wache abtauchen und durfte erst an der Französischen Straße wieder das Tageslicht sehen.
Wo Tunnel für U- und S-Bahnen entstehen, wird auf Vorrat gebaut: Tunnelreste und „blinde Tunnel“ finden sich unter vielen Bahnhöfen im Stadtzentrum: So unter dem Oranienplatz in Kreuzberg, unter dem Alexanderplatz, an der Grenzallee in Neukölln oder ein ungenutzter 700 Meter langer Tunnel unter der Littenstraße in Mitte. Unter dem Platz des heutigen sowjetischen Ehrenmals im Tiergarten baute Nazi-Planer Albert Speer die Anfänge eines gigantischen Tunnelsystems für seine „Germania“-Visionen: Ein Straßenkreuz und ein Tunnel für die U-Bahn Lübars–Marienfelde schlafen heute noch vor sich hin, in direkter Nachbarschaft zum neuen Tiergartentunnel.
Unvollendete Planungen gehen oft auf überholte Großprojekte zurück. So warten auf den U-Bahnhöfen Schloßstraße, Walther- Schreiber-Platz und Innsbrucker Platz ganze Geisterbahnhöfe auf die „Phantomlinie“ U10, die vom Kulturforum unter der Potsdamer Straße nach Steglitz führen sollte. Die unterirdische Passage am ICC ist ein Relikt aus der Planung der U3, die von der Uhlandstraße nach Westend führen sollte und bereits einen eigenen Bahnsteig unter dem U-Bahnhof Adenauerplatz besitzt.
Doch „blinde Tunnel“ sind kein Ding der Vergangenheit: Momentan wird gerade das U5-Teilstück Lehrter Bahnhof–Pariser Platz gebaut, ohne daß vorerst ein Anschluß an den Alex in Aussicht steht. Und auch die S-Bahn buddelte blind: Unter anderem einen eigenen S-Bahnhof unter dem U-Bahnhof Moritzplatz. Einziger Trost: Nicht alle dieser Tunnel stehen leer; die BVG nutzt sie als Abstell- oder Archivraum, als Kehranlagen oder – wie am Innsbrucker Platz – als Kegelbahn.
Neben den Verkehrsingenieuren gingen vor allem die Kriegsplaner in den Untergrund. Bereits 1935 wurden die ersten Berliner Bunker gebaut. Der Endkampf um Berlin tobte ebenfalls in den Kellern und Tunneln, in denen sich die Verteidiger festgesetzt hatten: „Die 600 Meter zwischen der Moltkebrücke und dem Reichstag wurden für die Rote Armee zum verlustreichsten Kampfabschnitt des Krieges“, schreiben die Autoren.
Nach dem Krieg waren die Bunker ein Problem: Der Beton war oft kaum kleinzukriegen. So entstanden neben Champignonzüchtungen vor allem Lagerräume für Lebensmittel und Bekleidung und bald auch wieder „Schutzräume“ wie etwa die U-Bahnhöfe Pankstraße und Siemensdamm.
Schließlich erzählt das Buch auch von Tunnelarbeiten, die am Fundament der staatlichen Ordnung kratzten: Die Fluchthelfertunnel nach dem Mauerbau sind ebenso dokumentiert wie die „Unterwelt im Untergrund“: Die Gebrüder Sass gelangten 1929 durch einen Tunnel an das Silber im Tresorraum der Disconto-Gesellschaft und wurden ebenso zu lokalen Berühmtheiten wie die Zehlendorfer Tunnelgangster. Die Bande stürmte im Juni 1995 eine Bank in Zehlendorf, knackte den Tresor und machte sich unterirdisch aus dem Staub, bevor die Polizei anrückte.
Die Geschichte der Tunnel und Keller geht weiter, machen die Autoren deutlich: Neben Neubauten wie dem Tiergartentunnel und den Versorgungstunneln unter Reichstag und Abgeordnetenbüros treibt die Bewag momentan in 40 Meter Tiefe eine Stromtrasse quer durch Berlin. Regelmäßig kommen vergessene Anlagen ans Tageslicht und werden im Baurausch zerstört. „Alle drei bis vier Wochen verschwindet eine Anlage“, vermutet Dietmar Arnold. Das Buch fordert denn auch einen behutsamen Umgang mit den Zeugnissen der Geschichte im Boden: Es sei geboten, „möglichst bald Klarheit darüber zu gewinnen, welche unterirdischen Anlagen für die Zukunft bewahrenswert sind“.
Dietmar und Ingmar Arnold, Frieder Salm: „Dunkle Welten“, Ch. Links Verlag, 224 Seiten, 240 z.T. farbige Abbildungen, 68 DM
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