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Mutter und Kind sind sich fremd

Peking und Hongkong ticken anders  ■ Von G. Blume und A. Vath

Seit über zwei Jahren zählen zwei digitale Leuchtanzeigen auf dem Tiananmen-Platz in Peking die Tage und Sekunden bis zur Rückgabe Hongkongs an China. Doch der rote Countdown täuscht. Die Pekinger zählen nicht mit.

Einen Monat vor dem Ende der Kronkolonie, das kommunistische Parteiführer und westliche Asienexperten gleichermaßen als historischen Einschnitt auf dem Weg Chinas zur Weltmacht feiern wollen, herrscht in Peking erstaunliche Gleichgültigkeit gegenüber den Ereignissen im fernen Süden. Von den Vorbereitungen zum angeblichen Jahrhundertfest ist in den Straßen der Hauptstadt wenig zu spüren. Zwar wirbt die Parteipropaganda an öffentlichen Gebäuden auf Plakatwänden für den neuen Landesteil, und die staatlichen Medien sind bemüht, mit Show-Quiz-Sendungen und neukomponierten Festmelodien Interesse zu wecken. Doch verriet es zumindest Unentschlossenheit, daß die Pekinger lange Zeit nichts über Festpläne in ihrer Stadt wußten. Erst Ende Mai ließ die Stadtregierung mitteilen, daß am Abend des 30. Juni der Pekinger Bürgermeister vor 60.000 geladenen Gästen auf dem Tiananmen-Platz eine Feierstunde zelebrieren wird. Dann folgt am nächsten Tag ein Gala-Abend im Arbeiterstadion.

Für die einfache Bevölkerung wollen die örtlichen „Straßenkomitees“ – die unterste Ebene der staatlichen Behörden – in den Tagen vor und nach der Übergabe Volksfeste abhalten. Auftritte von Laienschauspielern, Gedichtsvorlesungen, traditionelle Tänze und Feuerwerke werden dann vorübergehend die tristen Betonblocks der Pekinger Vorstädte beleben. Doch schaut man genauer hin, so sind es fast ausschließlich Rentner und Kinder, die an den Aktivitäten der Straßenkomitees teilnehmen. Für die arbeitende Bevölkerung wird es keinen Feiertag geben.

Schon sorgen sich untere Parteikader, daß das historische Ereignis unbemerkt am Volk vorbeistreicht. „Hongkong ist weit weg. Viele Pekinger wissen nicht viel von Hongkong“, räumt Xue Zhong Hua ein, die als Leiterin der Propagandaabteilung eines Straßenkomitees im Nordosten Pekings für die Feiern verantwortlich ist. Gegen die Unkenntnis des Volkes will Xue nun einen Professor der Peking-Universität zu Vorlesungen über Hongkong in die Stadtteile schicken.

„Natürlich können wir viel von Hongkong lernen. Die Stadt ist in jeder Hinsicht eine bedeutende Metropole und ein Symbol für eine hohe Entwicklungsstufe“, unterstreicht die forsche Parteisekretärin. Doch auch Xue scheint sich in ihrem modernen Büro zwischen hellblauen Stellwänden und rosa Sitzmöbeln der Stimmung in der Stadt nicht sicher zu sein.

In Wirklichkeit gibt es wenig, was Peking mit dem reichen, weltoffenen Hongkong verbindet. Nicht umsonst schwärmen Reisende, Diplomaten und Bankiers aus aller Welt immer noch von der „Perle des Orients“ – Hongkongs exotischem Spitznamen, während sich kaum ein Ausländer gerne nach Peking beordern läßt. In der einen Stadt sind fremde Gäste, sofern sie Geld mitbringen, wohlgelitten, in der anderen sperrt man sie auch unter günstigsten Bedingungen in Ausländerghettos ein.

Wie unterschiedlich die beiden Metropolen ticken, läßt sich an der Eßkultur ablesen: In Peking die traditionell schwere, variationslose Kost von der Pekingente bis zu Nudeln und Maultaschen – in Hongkong die leichte, gewürzreiche kantonesische Küche, die ohne Reis, Fisch und Frischgemüse nicht auskommt.

Es spiegelt das lebendige, unternehmungslustige Gemüt des Südens, daß dort die Sitte herrscht, nur frisches, am gleichen Tag geerntetes Gemüse zu essen. Die Pekinger haben dagegen den Brauch entwickelt, ihren geliebten Chinakohl im Winter monatelang im Treppenhaus zu lagern. Das verrät jene fast provinzielle Bodenständigkeit, die der Hauptstadt bis heute ihr Stehvermögen und ihren Stolz verleiht. Auch kulturell kommen sich Peking und Hongkong nicht näher. Liefert die eine Stadt Kung-Fu- und Eastern-Filme für das Massenvergnügen, so huldigt die andere immer noch der klassischen Pekingoper und dem Revolutionsballett aus der Kulturrevolution.

Nichts aber zeichnet die Mentalitätsgräben zwischen der Hauptstadt und der zukünftigen Sonderverwaltungszone so deutlich wie der Abstand zwischen den Popkulturen. Im Süden ist alle moderne Musik kitschig – der säuselnde Kanto-Pop, ein Verschnitt westlicher Schlagermusik mit alten chinesischen Melodien, beherrscht Hongkong heute wie einst der Jazz aus New Orleans. Peking aber bleibt die Hauptstadt der chinesischen Rockmusik, die sich aus einer wilden, widerspenstigen Szene speist und dieser Tage kantige Bands wie die Under Babies oder Brain Dead hervorbringt.

Was im sozialen Alltag nicht klappt, nämlich die Verbrüderung zwischen Nord- und Südchinesen, muß also das Fernsehen simulieren: „Vaterlandswalzer“ heißt der eineinhalbstündige Unterhaltungsabend, mit dem das Pekinger Stadtfernsehen Beijing TV-1 (BTV-1) sein Publikum exakt 40. Tage vor dem 1. Juli auf die Vereinigung mit Hongkong einstimmen will. „Daß Hongkong nach China zurückkommt, das wird die schönste Melodie des ,Vaterlandswalzers‘ sein“, lautet der Refrain der Fernsehshow. Es werden neue Lieder gesungen wie „Der Wunsch aller Chinesen“ und „Das Vaterland umarmen“. Immer wieder wird das Kind beschworen, das heim in den Schoß der Mutter kehrt. Doch was die Hongkonger Kultur prägt, kommt bei BTV-1 nicht vor. So bleibt es bei der Pekinger Politschnulze, und eine echte Annäherung findet auch auf dem Bildschirm nicht statt.

Die aber kann auch die Politik nicht leisten. Mehr denn je fällt ins Gewicht, daß Chinas im Februar verstorbener Führer Deng Xiaoping, der Hongkongs Rückkehr über Jahrzehnte hinweg plante, bei den Feiern ausfällt. „Es ist ein großes Unglück und vermutlich zu seinem tiefsten Bedauern, daß mein Vater vor der Rückgabe starb“, gestand Dengs ältester Sohn Deng Pufang während einer Hongkong- Reise im Mai. Tatsächlich verkörperte aus Pekinger Sicht niemand so sehr wie Deng die Einheit mit Hongkong. Er hätte den offiziellen politischen Feiern etwas von ihrer Sterilität nehmen können.

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