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Der „Verrat“ am eigenen Land

■ Der Anschlag zwang die US-Gesellschaft, sich mit der Ideologie ihres rechten Randes auseinanderzusetzen

Als am 19. April 1995 eine Autobombe eine Bundesbehörde zerstörte und 168 Menschen tötete, reagierten Politik und Öffentlichkeit reflexartig: Das konnte nur das Werk nahöstlicher beziehungsweise islamischer Terroristen sein. Doch mit der zufälligen Festnahme McVeighs wurden Fahndung und Aufmerksamkeit in eine andere Richtung gelenkt: auf einen militanten rechtsextremen Rand im eigenen Land. So drängte der Fall dem Land eine Auseinandersetzung auf, die in Amerika ihre eigene Vergangenheit hat: die Auseinandersetzung mit dem „Verrat“, der tatsächlichen oder angenommenen Verschwörung gegen die USA – aus dem eigenen Land.

Die Geschichte eines solchen „Verrats“ ist lang. Beispiele: Am 1.Mai 1886 wurden in Chicago 31 Demonstranten festgenommen, die auf dem Haymarket während einer Demonstration eine Bombe geworfen haben sollten. Acht deutschstämmige Arbeiterführer wurden zum Tod verurteilt. Der Prozeß galt als Schauprozeß, die vier vollstreckten Urteile als Justizmord und der ganze Fall als Ausdruck der herrschenden antideutschen und gewerkschaftsfeindlichen Hysterie. Die Begnadigung der überlebenden Häftlinge sechs Jahre später wurde auch als Rehabilitierung der Getöteten betrachtet.

1920 wurden in Boston die italienischen Einwanderer und Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti wegen Mordes an einem Geldboten zum Tode verurteilt. Auch in ihrer Hinrichtung sah die Weltöffentlichkeit einen Justizmord und eine Manifestation von Italienerfeindlichkeit.

1953 wurden Julius und Ethel Rosenberg hingerichtet. Sie sollen durch Geheimnisverrat der Sowjetunion den Bau der Atombombe ermöglicht haben. Auch dieser Fall erregte die Welt, wurde als Ausdruck von antikommunistischer Verratshysterie und Antisemitismus gewertet.

Der Prozeß um das politische Attentat dieses Jahrhunderts aber fand nie statt. Der Mörder von John F. Kennedy stand nie vor Gericht. Bis heute ranken sich Gerüchte um die Morde am Präsidenten und seinem Mörder.

Der Prozeß gegen Timothy McVeigh war ein Gesinnungsprozeß mit anderen Vorzeichen. In der Beweisführung spielten das, woran der Angeklagte glaubte, und die Ideologie, die ihn motivierte, eine wichtige Rolle. Dafür stand Literatur, die im Kofferraum seines Wagens gefunden wurde, darunter die „Turner Tagebücher“. Dieser Roman eines William Pierce, Vorsitzender einer der zahlreichen „arischen“ Gruppen, beschreibt den Aufstand freiheitsliebender Bürger gegen eine übermächtig werdende Bundesregierung, die sie entwaffnen und das Land an eine Weltregierung ausliefern will. Diese Dokumente sind nur die besonders groteske Manifestation einer US-amerikanischen ideologischen Grundströmung, eines tiefen Mißtrauens in die Regierung mit gelegentlich abenteuerlichen Auswüchsen. In seiner paranoiden Ausformung gleicht dieser Verfolgungswahn dem Antisemitismus und dem Antikommunismus, an dessen Stelle er nach dem Ende des Kalten Kriegs getreten ist. Die Verteidigung konnte mit gewissem Recht darauf hinweisen, daß regierungsfeindliches Ressentiment weitverbreitet ist und die phantastischsten Blüten treibt. Nun aber waren diese Phantasien Wirklichkeit geworden.

Das unterscheidet diesen Fall und diesen Prozeß – außer seiner professionelleren und faireren Verhandlungsführung – von den anderen: Waren die Schauprozesse von Chicago, Boston und New York Ausfluß von Haß, Ressentiment und Bigotterie, so saßen in Denver Haß und Ressentiment selbst auf der Anklagebank – eine Chance zur Besinnung, die noch gar nicht recht erkannt wurde.

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