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„Es geht nicht darum, das Grauen zu zeigen“

■ Kinder dürfen beim Thema Holocaust nicht überfordert und vor allem nicht traumatisiert werden, meint der Hamburger Erziehungswissenschaftler Matthias Heyl

taz: Herr Heyl, ab wann können Kinder mit dem Holocaust konfrontiert werden?

Matthias Heyl: Richtig thematisieren kann man den Holocaust erst ab der Sekundarstufe, also ab der 7. Klasse. Es kommt allerdings darauf an, was die Lehrer sich von dem Thema erwarten. Wenn sie damit den großen Rundumschlag zum Thema Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit avisieren, dann müssen sie dazu nicht den Umweg über Auschwitz nehmen. Dann sollten sie Ausländerfeindlichkeit und die Ausgrenzung von Minderheiten zum Thema machen.

Nun beschäftigt sich die Tagung, die Sie mitorganisiert haben, aber damit, ob der Holocaust nicht schon ein Thema für Kindergarten oder Grundschule ist.

Ja, grundlegende Voraussetzung dafür ist aber, daß Kinder Phantasie und Realität auseinanderhalten können. Und diese Fähigkeit entwickeln sie ab dem Grundschulalter. Es gibt aber auch reduzierte Formen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, etwa über Kinderbücher, die sich teils auch für jüngere Kinder eignen.

Viele Eltern reagieren völlig ablehnend, wenn man sie fragt, ob schon im Kindergarten über den Holocaust gesprochen werden soll. Ein Vater sagte mir: „Ich laß meine Kinder doch auch keine Horrorfilme gucken.“

Das ist verständlich, aber es geht doch nicht darum, ihnen den Horror und das Grauen zu zeigen. Kinder dürfen natürlich nicht mit Dingen konfrontiert werden, mit denen wir Erwachsenen schon genug Schwierigkeiten haben. Die Herausforderung ist also, einerseits das Thema nicht zu bagatellisieren, andererseits den Kindern nicht etwas zuzumuten, was sie überfordert oder gar traumatisiert.

Die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin Gertrud Beck meint, nicht die Kinder hätten Angst vor dem Thema, sondern die Erwachsenen. Haben Eltern, die ablehnend reagieren, also selber Angst?

Es ist eine natürliche Abwehrreaktion von Erwachsenen, die sich möglicherweise im Unklaren darüber sind, wo ihre eigenen Eltern oder Großeltern in der NS-Zeit gestanden haben. Wir haben in der Regel Angst davor, zu entdecken, daß es da ganz beschämende Geschichten gibt. Bei Kindern kommt es darauf an, wie der Holocaust behandelt wird: Wenn man gleich den Horror betont, werden sie in eine Identifikation gegen die Opfer gezwungen. Denn es ist nie angenehm, sich mit Schwachen zu identifizieren.

Wie sollte der Holocaust denn Kindern nahegebracht werden?

Patentrezepte gibt es nicht. Ido Abram, Professor an der Uni von Amsterdam, vertritt den Ansatz, daß man Kinder zur Mitmenschlichkeit erziehen soll: Man solle sie also nicht direkt mit dem Holocaust konfrontieren, sondern ihnen nahebringen, daß sie sich mit anderen Menschen identifizieren. Batsheva Dagan, eine Überlebende, die heute als Psychologin in Israel arbeitet, hat selbst Kinderbücher geschrieben. In Reimen erzählt sie darin etwa die Geschichte von Shika, dem Hund im Ghetto. Ein kleiner Junge darf diesen Hund nicht behalten. Es ist eine relativ niedliche Geschichte, in deren Mittelpunkt eben die Trennung von Shika, dem Hund, steht.

Und solche Geschichten könnten auch in deutschen Kindergärten erzählt werden?

Ja, aber – kann ich da nur sagen. Die Deutschen fühlen sich bei diesem Thema oft befangen und würden sich deshalb gern von Israelis oder Holländern sagen lassen, wie man es am besten macht. Dabei läßt sich gerade beim Thema Holocaust nicht alles einfach übertragen. In den USA gibt es zum Beispiel ein Bilderbuch, das heißt „Die Nummer auf Großvaters Arm“. Dort wird erzählt, wie ein kleines Mädchen beim Abwaschen plötzlich entdeckt, daß Großvater eine Nummer am Arm hat. Und dann erzählt der Großvater, der Auschwitz überlebt hat, seiner Enkelin vom Holocaust.

Es ist ein sehr beeindruckendes Buch. Sehr vorsichtig, ohne daß Menschen in entwürdigenden Situationen gezeigt werden. Das ist ein faszinierendes Buch für Familien von Überlebenden. Ich frage mich allerdings, ob man solch ein Buch auch in den Familien von Tätern oder Zuschauern vorlesen sollte. Wie müßte dann aber ein Kinderbuch aussehen, das die deutsche Geschichte erzählt? Müßte das etwa ein Buch sein über Großvaters SS-Blutgruppenzeichen unter der Achsel?

Interview: Karin Flothmann

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