piwik no script img

Die Diskretion der Gedächtnislücken

■ „Das Gedächtnis der Stadt“: ein unvollständiger Versuch, Geschichtsschreibung zu komplettieren

Nichts riecht so schnell ranzig wie die glühendsten Ankündigungen ehrenwerter Anstrengungen. „Wir müssen uns beschäftigen mit den spezifischen Hamburger Ereignissen während der Nazizeit. Wir müssen die Frage nach Kontinuität und Wandel in unserer Stadt in der Nachkriegszeit aufgreifen ... Es ist Zeit für die ganze Wahrheit.“So Hamburgs Bürgermeister Klaus von Dohnanyi am 13.12.1984 in seiner Rede „Es genügt nicht, zu erinnern – eine Hamburger Initiative“.

Die hanseatische Wirklichkeit reduzierte diesen hehren Anspruch sehr schnell. Die vom Senat in Auftrag gegebene Broschüre über den Umgang der Hansestadt mit der eigenen „braunen“Vergangenheit wurde als zu „konfliktträchtig“angesehen und verworfen.

Mehr als zehn Jahre nach Dohnanyis durchaus bemerkenswerter Rede konzipierte der Politologe Peter Reichel eine Vorlesungsreihe, die sich kritisch mit Hamburgs Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzte. Unter dem Titel Das Gedächtnis der Stadt sind Vorträge dieser Ringvorlesung nunmehr erschienen.

Die 250 Seiten umfassende Anthologie vereint Beiträge unterschiedlicher Fachdisziplinen. So beschäftigt sich der Theologe Wolfgang Grünberg mit Hamburgs „Schicksalskirche“, der Nikolaikirche, als Gedächtnisort. Detlef Garbe, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, setzt sich in seinem Aufsatz „Ein schwieriges Erbe“mit Hamburgs beschämendem Umgang mit der Geschichte des Konzentrationslagers vor den Toren der Stadt auseinander. Von der Errichtung der Haftanstalt auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers, der zögerlichen Errichtung eines Denkmals, fehlerhaften und verschleiernden Inschriften, der aufgrund finanzieller „Sachzwänge“immer noch nicht durchgeführten Verlegung der Justizvollzugsanstalt, eine Chronique scandaleuse ohne absehbares Ende.

Aus dem Reigen der Beiträge zur Denkmalpflege und Stadtplanung, zur Universität und ihrer Vergangenheit, zu Alltagskultur in den 50er Jahren und der Auseinandersetzung NS-Verfolgter mit der eigenen Geschichte stechen die Beiträge von Dietrich Kuhlbrodt, Ina Lorenz und Hans Walden durch ihre prononcierten Darstellungen wohltuend hervor.

Waldens Aufsatz „Das Schweigen der Denkmäler“setzt sich mit dem „Kriegsklotz“am Stephansplatz und dem Gegendenkmal von Alfred Hrdlicka auseinander. Dabei lenkt er den Blick auf all die Militäreinrichtungen, die Hamburg bis zum Kriegsbeginn zu einer der größten Garnisonen Deutschlands werden ließen.

Arnold Sywottek, seit kurzem Leiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, bilanziert in seinem Aufsatz „Das wissenschaftliche Stadtgedächtnis“, mithin Forschungen über die Zeit nationalsozialistischer Herrschaft in Hamburg. Sein umfassender Überblick bleibt trotz interessanter Ausgangslage zu additiv.

Seine provokante Frage „Wer erwartete und erwartet eigentlich die ,volle Wahrheit' über die Vergangenheit?“ließe sich leicht und begründet verändern. Wenn „die Rolle der unternehmerischen Elite dieser Stadt, die mit Carl Krogmann auch von 1933 bis 1945 den Bürgermeister stellte“, als Forschungsdesiderat erkannt ist, bliebe zu fragen, warum gegenüber den „Wirtschaftsführern“und Großunternehmern von einst so lange Diskretion ausgeübt wurde. Warum wurde in Hamburg nach Worten des Historikers Manfred Asendorf tatkräftig an der „Gauleiter-Lüge“gestrickt, mußte man in Hamburg bis 1995 warten, um umfassend über Person und Tätigkeit des NSDAP-Gauleiters Karl Kaufmann informiert zu werden? Warum fand die aktive Beteiligung Hamburger Polizeibataillone an der „Endlösung der Judenfrage“nicht das forschende Interesse eines Hamburger Historikers? Warum wird erst 1997 eine erste umfassende Studie zur „Arisierung in Hamburg“erscheinen?

Diese Fragen sollen den Wert dieser durchaus interessanten Anthologie nicht schmälern. Möglicherweise ergibt sich ein fruchtbarer Disput, wenn man die hier präsentierten Facetten vom Gedächtnis der Stadt dem Buch gegenüberstellt, das für den Herbst angekündigt ist: Kein abgeschlossenes Kapitel: Hamburg im „Dritten Reich“. Es handelt sich, „um die erste übergreifende Untersuchung zum Zusammenwirken der Machteliten Hamburgs und der Nationalsozialisten“.

Wilfried Weinke

Peter Reichel (Hg.): Das Gedächtnis der Stadt. Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Band 6 der Schriftenreihe der Hamburgischen Kulturstiftung. Dölling und Galitz Verlag 1997, 252 Seiten, DM 39,80.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen