: Autistische Gebäude, der Rest ist Brache
■ taz-Serie: Stadtführungen (Teil 5). Die Teilnehmer einer sogenannten Stadtraumerkundung entdecken auf ungewöhnliche Art das Berliner Kulturforum
Der Name klingt erhaben, so, als würde hier das geistige Leben Berlins kulminieren: Kulturforum. Aber wer den Ort sucht, findet sich bald vor einem weißen Imbißwagen wieder, aus dem heraus ein türkisches Paar Börek und Kaffee anbietet. Eine Oase in der Einöde. Zwischen den beziehungslos hingewürfelten Stätten der Hochkultur, der Nationalgalerie, der Philharmonie, der Staatsbibliothek und dem Kunstgewerbemuseum gießt sich der Verkehr über die Potsdamer Straße hinüber zur neuen Mitte Berlins. Im Hintergrund nimmt die Baustelle am Potsdamer Platz allmählich Formen an, die Fassaden der entstehenden debis-Bürotürme beugen sich schon drohend über die Silhouette der Staatsbibliothek. Der Rest ist Brache. Gefüllt wird die Leere durch den Parkplatz der Philharmonie sowie ein großes Zirkuszelt, das abends mit Kabarett und Singlepartys lockt.
Es ist ein regnerischer Nachmittag, als Karsten Feucht, in Jeans und Flohmarktjackett, seine sieben Rundgang-Teilnehmer auf der Treppe vor der luftigen Mies-van- der-Rohe-Nationalgalerie begrüßt. Dann führt er seine Gäste hinunter zu dem Platz neben der Nationalgalerie, wo er die Spielregeln erläutern will. Ausgerechnet hier, an einem der unwirtlichsten Orte der Stadt, haben der Architekt Karsten Feucht und der Künstler Rainer Düvell sich mit Baugerüst und Zeltplane ein Refugium aufgebaut. Hier, wo sich die Trümmer großer stadtplanerischer Visionen häufen, wollen sie ihren eigenen, auch nicht gerade bescheidenen Traum verwirklichen: einen Ort schaffen, an dem man von der Stadt Pause machen und ins Gespräch kommen kann – ein kommunikativer Ort inmitten autistischer Gebäude. Eine „Stadtlichtung“ gar, an der sich Leute im Sommer treffen, um Sonnenuntergänge zu beobachten.
Auf Plastikstühlen laden die beiden montags zu Kaffee und Kuchen. Und jeden Samstag, noch bis zum 6. September, bieten sie ein „Erkundungsspiel“ an. Mit Kompaß, Lupe und Ereigniskarten wie beim Monopoly werden die Teilnehmer losgeschickt, um sich das Kulturforum selbst anzueignen. Eine Pappmaske, durch deren Mitte man einen blinden Fleck sieht, ist das kurioseste Utensil. Wer es handgreiflicher braucht, kann sich aber auch eine Ortschronik, Zitate, Pläne und Bilder aus dem bereitliegenden Koffer schnappen.
Die Besucher sind etwas unsicher, akzeptieren aber das Angebot und trollen sich einzeln über den Platz. Der hat seine Tücken: Kein einziger Eingang weist auf den Platz in der Mitte, und manche Türen sind so versteckt, daß man sie kaum findet. „Sieht aus, als wäre alles geschlossen“, wundert sich ein westdeutscher Teilnehmer. Eine andere Mitspielerin steigt auf den Kirchturm der Matthäikirche, um sich von oben ein Bild von der merkwürdigen Stadtlandschaft zu machen.
Keine Fragen beantworten, sondern zum Entdecken anregen wollen Rainer Düvell und Karsten Feucht. Was wie ein studentisches Seminar zur Architekturwahrnehmung anmutet, ist vor allem nichts für jene, die sich eine herkömmliche Stadtführung erhoffen. Eine alte Frau verabschiedet sich gleich zu Beginn. Tatsächlich erschließen sich die Mysterien moderner Stadtplanung besser, wenn man sie erklärt bekommt. So hefte ich mich an die Fersen eines beredten Immobilienkaufmanns, der sich prima auskennt. Er erläutert mir beim Kaffee an der Imbißbude die Geschichte: Vor dem Krieg fuhren hier noch Straßenbahnen die Straße entlang zum Potsdamer Platz, ins urbane Zentrum. Die Nazis ließen die umliegenden Gebäude abtragen, um für Albert Speers Magistrale eine Schneise zu schlagen.
Doch so weit kam es nicht: Nach dem Krieg wurden die Grundmauern des geplanten „Haus Vaterland“ gesprengt. Einzig die Matthäikirche blieb übrig, als Überbleibsel einer einst reichen Gemeinde, die früher an das Diplomatenviertel grenzte. Mit der Philharmonie entstand allmählich das heutige Ensemble, das wegen des Mauerbaus jedoch fortan an der Peripherie lag.
Weil aus dem geplanten Gästehaus der Philharmonie nie etwas wurde, herrscht nun Leere zwischen den wuchtigen Einzelbauten. Unfertig und vorläufig, genau das Gegenteil eines Forums, so wirkt der Ort. Einzig besagte Imbißbude lädt die studentischen Besucher der Staatsbibliothek oder die Bauherren vom Potsdamer Platz, in Helm und Anzug, zum Verweilen ein. So gesehen existiert der „Ort der Begegnung“, wie er den beiden Stadtträumern vorschwebt, bereits. Daniel Bax
Stadtraumerkundung, bis 6. September 97 jeden Samstag von 15 bis 18 Uhr, Anmeldung bei Stattreisen, Tel.: 030/4553028
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