piwik no script img

„Der Typ muß richtig weg“

Für ein paar Mark trampelte eine rechte Clique bei Heilbronn einen Elektriker tot. Markus hatte das Auto, Philipp trat rein, „Metzger“ hielt die Mülltüte zu  ■ Von Beate Flemming

Vier“, sagt Werner Weickum. Dann, unter Stöhnen, preßt er noch drei Zahlen hervor. Es waren seine letzten Worte: die Geheimnummer seiner Scheckkarte. In der Nacht vom 19. auf den 20. Juli 1996 gab er sie preis, auf dem Bahnhof des Fachwerkstädtchens Eppingen bei Heilbronn.

Ungefähr 20 Stunden später trifft sich auf einem Grillplatz im Hardtwald bei Eppingen eine Clique. Die Mädchen und Jungen tragen Springerstiefel, fleckige Domestosjeans oder Bundeswehr- Tarnhosen, die Haare stoppelkurz oder Glatze. Sie reden über Pitbulls, über Autos, alles mögliche. Nur ein Thema ist tabu.

Am Montag fällt dem Gutsverwalter von Schloß Neipperg auf seinem morgendlichen Kontrollgang ein weißer Joggingschuh auf. Er liegt links vom Feldweg. Rechts, im Gebüsch, liegt ein Toter. Er hat den zweiten Schuh am Fuß. Über dem blutverkrusteten Gesicht schwirren Fliegen.

Was passiert ist in der Nacht zum 20. Juli, versucht derzeit das Heilbronner Landgericht zu klären. In dem Mordprozeß, der seit Ende Mai Richter und Staatsanwälte beschäftigt, wird am Donnerstag ein Urteil erwartet. Doch bis dahin müssen noch einige Details geklärt werden. Unerfreuliche Details.

Werner Weickum, 44, Elektriker, ging am Nachmittag des 19. Juli in die Bahnhofsgaststätte von Eppingen, um das Wochenende mit ein paar Schorlen rotsüß einzuleiten. Es werden 13, erinnert sich die Bedienung. Gegen 23 Uhr wankt er auf die Wartehäuschen am Bahnhof zu und läßt sich auf eine Sitzschale fallen. Er hört den jungen Mann mit der Glatze nicht kommen. „Es fährt kein Bus mehr, sagt der, auch kein Zug. Aber, willst du schnellen Sex? – 200 Mark!“ Hinter dem Mann taucht ein Mädchen auf, schlank, rote Haare, Springerstiefel. Arm in Arm geht Weickum mit ihr den Bahnsteig entlang.

Sie sind auf der Höhe des Fahrdienstleiterhäuschens, als Weickum plötzlich eine Faust im Gesicht trifft. Das Mädchen läuft weg, vor Weickum steht ein riesiger Glatzkopf. Weickum torkelt, fällt auf die Knie. Dann kommt ein anderer. Er holt mit dem rechten Bein aus, viermal, fünfmal, der schwarze Stiefel mit den Stahlkappen trifft Weickum, bis er über die Bahnsteigkante aufs Gleis fällt. Sein Gesicht blutet.

Sie schleifen in weg. Zwei oder drei Glatzen stehen plötzlich bei ihm. Einer tritt ihn mit dem Stiefel in den Hintern: Sie wollen die Geheimnummer seiner Scheckkarte. Er gibt ihnen die falsche. Sie kommen zurück, treten in den Magen, gegen die Brust, ins Gesicht, dann stampft einer mit Wucht gegen die Schläfe. Er gibt ihnen die Nummer. Sie ziehen ihn über den Bahnsteig, am Fahrdienstleiterhäuschen lassen sie ihn liegen.

Als Todesursache ermitteln die Gerichtsmediziner der Universität Tübingen später: Die linke Schläfe ist gebrochen, Blutungen im Schädel, Verletzungen an der Nase, einige Rippen haben sich in die Lunge gespießt. Im Blut mißt man 2,9 Promille Alkohol. Der Neuropathologe findet Beweise dafür, daß der Mann erstickt ist.

„War es so? Oder so? Oder war es so?“ Im holzgetäfelten Großen Saal des Heilbronner Landgerichts mühen sich zwei Rechtsmediziner mit einem blauen Müllsack. Der eine hat ihn über dem Kopf, der andere packt die Öffnung, mal eng am Hals, mal an den Schultern, dann läßt er am Kopf eine Luftblase. Sie bekommen drei Antworten: Kopfschütteln, Schulterzucken, Schweigen.

Zwischen den schwarzen Roben ihrer Verteidiger ducken sich zehn Angeklagte in bunten Sweatshirts und Turnschuhen. Drei Mädchen, sieben Jungen, der jüngste 16, der älteste 23 Jahre alt, alle ordentlich frisiert. Einer, Michael, wegen Fluchtgefahr mit Fußschellen. 65 Seiten stark ist die Anklageschrift. Die Vorwürfe: schwerer Raub, gefährliche Körperverletzung, schwere räuberische Erpressung, versuchter Computerbetrug mit Scheckkarte. Mord. Zehn gegen einen, das sei kaltblütig, sagt der Anwalt der Familie Weickum.

Auch der hat rekonstruiert, wie es gewesen sein könnte am 19. Juli. Während Werner Weickum, das spätere Opfer, in der Kneipe sitzt, steigt Markus*, 22, in Heilbronn in seinen Opel Kadett GSI, ein Geschenk seiner Eltern. Er will seinen Freund Michael*, genannt „der Metzger“, abholen. Markus ist stolz auf seinen weißen Opel, er hat 160 PS, Heckspoiler, getönte Scheiben. Der Wagen muß immer sauber sein, was nicht einfach ist mit den Kumpels auf dem Rücksitz, links die Bierflasche, rechts die Kippe. Fürs Gröbste hat Markus einen Müllsack im Auto.

Den „Metzger“ kennt Markus damals erst zwei Wochen. Der Hüne, von Beruf Metzger, kommt frisch aus dem Knast, der hat was hinter sich, Respekt. Die Clique begießt seine wiedergewonnene Freiheit. Er ist der älteste von ihnen, 23, Tätowierungen hat er, und Muskeln. Es gibt Gerüchte, er könne einen Pferdehals mit einem Schlag durchhauen.

Markus' Arme dagegen: Wabbelspeck. Menschen machen Markus manchmal richtig angst, besonders wenn sie ihn anbrüllen. Seit einem Jahr besucht er heimlich eine Nervenärztin, sie gibt ihm ein Medikament, das seine trüben Stimmungen erhellt, seitdem geht es besser. Vor allem aber wegen der neuen Freunde. In der Clique ist „Metzger“ der Chef.

Gegen 19.30 Uhr an jenem Tag also treffen Markus und Michael bei Daniel* und Iris* ein. Die beiden wohnen in einem ehemaligen Bauernhof in Eppingen, „Führerhauptquartier“ genannt. Daniel, 20, züchtet Kampfhunde, zwei Junge hatte er damals, die sich durch die Tischplatten bissen. Für Leben sorgen auch die Ratten. Daniels Bewährungshelferin traute sich hier nicht mehr her, sagt sie heute. Seit dem Tag, als Daniel ihr erzählte, er werde, wenn es wieder Probleme mit der Sozialhilfe gebe, mal seinen Pitbull ein bißchen mit der Beamtin alleine lassen.

Freunde, findet Daniel, sind dazu da, einem Rückhalt zu geben. Das gilt auch für die „Kleinen“: Nina*, 16, die beste Freundin von Iris. Sie mag die Gruppe, weil man sie nicht wegen ihres verkürzten rechten Armes hänselt. An jenem Abend kommt auch Bernd, 19, mit seinem Kumpel Kevin, 15, und mit Tim, 16. Schließlich der große Philipp mit der zierlichen Jenny. Die beiden wohnen zusammen. Stark fühlt Philipp sich, seit er zu den Skins gehört.

Die haben alle Stolpersteine auf dem Lebensweg. Scheidungskind „Metzger“ flog dreimal zu Hause raus, Bernds Mutter war Alkoholikerin, Kevin mußte Scheidung und Umzug von Ost nach West verdauen, Jenny stieg in die Hauptschule ab, Markus war ein Schulversager, Daniel und Iris sind vorbestraft.

Als die Flaschen leergetrunken sind am Abend des 19. Juli, macht sich die Gruppe auf den Weg zum Bahnhof. Markus öffnet seine Autotüren und legt Musik ein. Im Kofferraum liegen frische Sixpacks. Michael trinkt sein siebtes oder achtes Bier, die anderen sind beim vierten oder fünften.

„Den Typ an der Haltestelle“ hat Michael dann entdeckt. „Den kann man ausnehmen“, sagt er. „Jenny könnte helfen.“ Als Philipp wenig später Jenny am Arm des Fremden sieht, wird er sauer. Auf Jenny, vor allem aber auf Michael, der seine Freundin, wenn auch nur zum Schein, zum „Anschaffen“ schickt. Weil Philipp niemals einen aus der Gruppe angreifen würde, läßt er seine Wut an Weickum aus. Der Zusammenhalt ging ihm über alles, sagt sein Vater.

„Ich war so aggressiv“, sagt Michael im Rückblick. 200 Mark findet er im Geldbeutel, als Weickum am Boden liegt. 100 gibt er Daniel, als Anzahlung für einen neuen Pitbull. Der Typ auf dem Bahnsteig wird Ärger machen, fällt Michael dann ein. „Der muß weg“, sagte einer. „Wohin denn?“ fragt jemand zurück. Tim schlägt vor, „den Typ in der Fußgängerzone abzulegen, damit der, wenn er aufwacht, denkt, das sei da passiert“. Michael soll dann gesagt haben: „Der Typ muß richtig weg.“

„Keiner war dagegen“, sagt er heute, „also waren alle dafür.“ Egal, wer angefangen hat, jetzt hängen sie alle drin. Keinen aus der Gruppe würden sie hängenlassen. „In den See“, „vergraben“, will Jenny gehört haben. Der Gutachter wird ihr ein „stark geschädigtes Selbstwertgefühl“ bescheinigen, das sie hinter „aufgesetzter Coolness und Pfiffigkeit“ versteckt.

Cool sind sie alle gewesen damals. Zwei der Jungs packen Weickum unter den Armen, ein dritter nimmt seine Füße. Es gibt jetzt kein Zurück mehr, man ist im Rausch: Alkoholrausch, Gewaltrausch, Gruppenrausch. Weickum wird in den Kofferraum des Opels gewuchtet. Jemand stülpt ihm einen Müllsack über den Kopf. Weickum reißt mit der Hand ein Loch in den Müllsack. Doch Mitleid haben sie keines, hat denn jemals einer Mitleid mit ihnen gehabt?

Den zweiten Müllsack hält Michael zu, „damit der bewußtlos wird und nicht sieht, wo wir hinfahren“. Ein paarmal noch hat sich der Müllsack aufgebläht. Markus und Tim, beide geradezu „hörig“, wie der Gutachter später befindet, halten Weickums Hände. Dann bewegt sich nichts mehr.

„Kein Wort“, schwören sie, als sie sich auf dem Bauernhof wiedertreffen. In den Tagen danach, sagt Iris, tun sich einige richtig groß beim Austausch ihrer Erinnerungen. Jeder hatte es „dem gegeben“. Tim plagen inzwischen Alpträume. Und auch den anderen wird mulmig. In Neippberg, steht in der Zeitung, sei ein „unbekannter Toter“ aufgetaucht.

Am 14. August um 6 Uhr beginnen die Beamten mit den Verhaftungen. Es wird vernommen, ausgesagt, zu Protokoll gegeben. Jeder liest, was der andere gesagt hat. Dann schicken die Kumpels sich Briefe. Michael schreibt: „Ich finde Scheiße, wie du ausgesagt hast. Ich kann verstehen, daß du nicht mehr in den Knast willst, aber dann hättest du dich anders verhalten müssen.“ Michael an seinen Bruder: „Schöne Mittäter hab' ich da. Ich bin es wieder alleine. Die ganze Scheiße tut mir leid, ich wäre gerne an der Stelle des Opfers, dann müßte ich nicht mehr mitkriegen, wie beschissen das Leben ist.“ Philipp an Tim: „Sorry ... ich hab' verdammt blöd ausgesagt, dann auch noch falsch.“ Jenny schreibt nach Hause: „Ich wollte Mut beweisen... Mädchen hatten noch nie was zu sagen.“

Wenn die Angeklagten über Werner reden, sprechen sie von „dem Opfer“, „dem Typ“. Wenn sie sich nach den Verhandlungspausen aneinander vorbeidrücken, gibt Daniel seiner acht Monate alten Tochter Lara einen Kuß. Bei einer solchen Gelegenheit hat er mit Philipp kürzlich den Kopf eines Gerichtwachtmeisters gegen die Tür gehauen, ein anderer bekam eine Handschelle ins Genick. Aber wenn es zur Sache geht, vor dem Richter, haben die einen nichts gesehen, die anderen nur zugesehen, die dritten Befehle ausgeführt.

Daniel sagt, er bereue das Ganze, weil er sich damit das Leben versaut habe. Philipp schrieb seinem „Kameraden“, er freue sich darauf, sich bald wieder kahlzuscheren. „Da hat sie ihre Monster, die Gesellschaft“, sagt sein Vater.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen