■ Unser deutsches Eis ist mehr als immer nur Fürst Pückler: Eine Stracciatella, eine Rippchen, bitte!
Es ist wieder die Hölle los in Kalles Eissalon mitten im Herzen von Nienburg an der Weser. Bis weit auf die Straße, fast hinunter zum Ufer des Flusses stehen die Schlangen. Die Menschen wollen nur eins: die neuesten Kreationen aus Kalles arktischer Hexenküche; die Eissorten, die man nur hier und nirgendwo sonst bekommt. Denn Kalle, der mit bürgerlichem Namen Karl Heinz Dietz heißt, wirft jede Woche eine neue Geschmacksrichtung auf den Markt und orientiert sich dabei an den klassischen Vorlieben der Norddeutschen Tiefebene: Sauerkraut, Rippchen, Kotelett, Kartoffeln, Strammer Max und zu Beginn der Saison auch Spargel.
Früher war der Shooting-Star der Eiscremebranche nur ein kleiner Molkereifacharbeiter in der Abteilung Frischkäse bei Nordmilch. Aber seine geheime Liebe gehörte schon immer dem Milcheis. „Als kleines Kind“, erinnert sich Kalle, „konnte ich es kaum erwarten, daß der Italiener in der Langen Straße im Frühling aufmachte. Den ganzen Winter habe ich geträumt von Stracciatella, Mocca und dunklem, cremigem Schokoeis.“
In seiner Not fing Kalle an zu experimentieren. Er schloß sich in der alten Waschküche seiner Großmutter Else ein und war nur ausgerüstet mit einer Palette Frischmilch und seinem Kosmos- Chemiekasten „Junior“, den er zur Konfirmation geschenkt bekommen hatte.
Die ersten Ergebnisse seien katastrophal gewesen, meint Kalle – sie hätten genauso krank ausgesehen wie der Auswurf, den sein herunterkommener Onkel Herbert allmorgendlich aus seiner Lunge zu würgen pflegte, und seien manchmal sogar explodiert. Mit der Zeit aber wurde Kalle ein Eisprofi. Die Initialzündung zu seinem Erfolg kam eher zufällig. Auf einem Landjugendball gab er damit an, den in der Region gefürchteten K.O.-Cocktail „Futschi 2000“ auch als Eiscreme herstellen zu können. Niemand glaubte ihm. Das Ergebnis: Zwei Wochen später wurde der komplette Dorfverschönerungsverein des nahen Schweringen mit lebensbedrohlicher Alkoholvergiftung in das Kreiskrankenhaus eingeliefert, nachdem Kalle sein Eis auf dem Frühlingsfest verteilt hatte.
Nach diesem Erfolg gab es kein Halten mehr, und heute kann man sich an seiner Eistheke komplette Menüs zusammenstellen: Wildschweinbraten mit Kroketten, Preiselbeeren und Bohnen sind ebensowenig ein Problem wie Pommes rotweiß oder das Döner- Eis mit delikater Knoblauchsoße. Schon gibt es die ersten Anfragen aus der Industrie. Zusammen mit Langnese beispielsweise will Kalle nächstes Jahr die exklusiven Sorten „Rostbratwurst“ und „halbes Hähnchen“ auf den Markt bringen, und für Nordsee arbeitet er an einer „Gelati di mare“-Version.
Bis aber diese hochfliegenden Pläne verwirklicht sind, steht Kalle persönlich auch weiterhin in seinem Nienburger Eissalon hinter der Theke und ist stolz darauf, innerhalb von wenigen Tagen selbst die ausgefallensten Wünsche verwirklichen zu können. Tabus kennt er nicht. So schüttelt er noch heute den Kopf, wenn er an seinen extremsten Kunden denkt. Es war bereits kurz vor Ladenschluß, als ein komplett in schwarzes Gummi gekleideter Mann sein Geschäft betrat und nur einen Satz sagte: „Mach mir Latex-Eis.“ Auch ihm konnte geholfen werden. Fritz v. Oeltjen
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