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Moskaus später Sieg

■ Vor einem Jahr stimmte Boris Jelzin dem Friedensvertrag mit Tschetschenien zu. Doch was damals wie ein Sieg für die Rebellen aussah, entpuppte sich als Niederlage. Die Unabhängigkeit rückt in weite Ferne Von Klaus-Helg

Moskaus später Sieg

„Er hat den Islam nicht richtig gelehrt“, sagte der Junge noch zu seiner Verteidigung, deshalb habe er den Mullah erschossen. Dann riß ihn die Familie des ermordeten Geistlichen auf der Stelle in Stücke. Dergleichen grausame Vorkommnisse sollen in der Kaukasusrepublik Tschetschenien keine Einzelfälle mehr sein. Radikale Prediger der islamisch fundamentalistischen Wahhabiten haben in den entwurzelten und vom Krieg gezeichneten Jugendlichen eine dankbare Gefolgschaft gefunden. War Tschetschenien vor dem brutalen Feldzug eine laizistische Gesellschaft, hat der Krieg das Land in ein Treibhaus des Islams verwandelt. So jedenfalls verbreiten es russische Medien, deren Haltung gegenüber Tschetschenien sich nach dem vor genau einem Jahr geschlossenen Friedensvertrag zwischen Moskau und Grosny krass verändert hat.

Unterstützte während des Krieges die Mehrheit der russischen Zeitungen den Unabhängigkeitskampf der drangsalierten Kaukasier, häufen sich heute Stimmen, die vor krimineller Gefahr und islamischem Fundamentalismus warnen, die aus dem Süden Rußland drohten. Den radikalen – manchmal hysterischen – Sinneswandel erklären die unzähligen Geiselnahmen, die im letzten halben Jahr auf tschetschenischem Boden stattgefunden haben.

Rebellen nahmen vorzugsweise russische und ausländische Journalisten, die gutes Kopfgeld versprachen, gefangen. Sogar die landesweit geschätzte Journalistin Jelena Masljuk, die mit ihren Berichten von vorderster Front die internationale Aufmerksamkeit auf die russischen Massaker in Tschetschenien gerichtet hatte, wurde Opfer der Headhunter. Nach drei Monaten Gefangenschaft in einem Erdloch wurden sie und ihre beiden Kollegen gegen ein Lösegeld von mehreren Millionen US-Dollar freigelassen. Noch immer werden vierzig Personen vermißt.

Der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, Boris Beresowski, beschuldigte nach der Befreiung der Geiseln hohe Politiker in der tschetschenischen Regierung. Er schloß nicht aus, daß selbst der im Januar mit großer Mehrheit gewählte Präsident Aslan Maschadow zumindest von den Machenschaften in seiner Umgebung wußte.

Präsident Jelzin, der um ein gutes Einvernehmen mit dem als gemäßigt geltenden Maschadow bemüht ist, erteilte seinem Subalternen einen öffentlichen Rüffel. Der Eindruck indes blieb bestehen: Aslan Maschadow hält die Zügel nicht fest in der Hand. Seit Amtsantritt ist es ihm nicht gelungen, Ordnung zu schaffen und gegen kriminelle Banden vorzugehen. Der innertschetschenische Frieden zwingt ihn, warlords, die sich auf eigene Faust Geld verschaffen, zu verschonen. Obwohl er verfügte, alle Männer, die nicht den im Juli gegründeten Streitkräften angehörten, hätten ihre Waffen auszuhändigen, beherrschen in der Hauptstadt Grosny nach wie vor martialische Figuren das Stadtbild.

Um die Stimmen der Bergbewohner zu gewinnen, kandidierte Maschadow im Januar zusammen mit Wacha Arsanow. Der Vizepräsident entwickelt sich unterdessen zu einem radikalen Gegenspieler, dem nicht daran gelegen ist, mit Rußland einen Kompromiß zu finden. Seine Familie soll gut an dem Menschenhandel verdienen. Wird er auf die Geschäfte angesprochen, streitet er die Anschuldigungen nicht einmal entschieden ab.

Die inneren Zwistigkeiten haben noch nicht den Grad erreicht, wo sie zu eskalieren drohen. Lediglich die Position Maschadows ist geschwächt, was den Interessen des Kreml scheinbar entgegenkommt. So beeilt sich Moskau denn auch nicht, die offenen Fragen auszuräumen. Wirtschaftliche Hilfe, die Rußland in dem im Mai geschlossenen Friedensvertrag zugesagt hatte, ist bisher nicht eingetroffen. 80 Prozent der Bevölkerung sind indes arbeitslos und ohne Aussicht auf baldigen Verdienst.

Im Kreml folgt man offensichtlich der Devise, Maschadow zappeln zu lassen. Gerät seine Stellung ins Wanken, greift man ihm mit Geld unter die Arme und wird einige Zugeständnisse machen. Ansonsten erweist sich ein nicht fest im Sattel sitzender Präsident immer noch als ein gefügigerer Verhandlungspartner. Zudem zeigt sich Moskau nicht gewillt – trotz militärischer Niederlage – die Tschetschenen in die staatliche Unabhängigkeit zu entlassen.

In den Waffenstillstandsverhandlungen in Chassawjurt vor einem Jahr verschoben die Verhandlungsführer General Alexander Lebed und Maschadow die Statusfrage auf das Jahr 2001. Unterdessen drängt die tschetschenische Seite auf eine baldige Entscheidung. Wohlwissend, daß mit jedem verstrichenen Tag ihre Chancen schwinden. Andererseits gilt: Solange Grosny auf Souveränität besteht, sieht sich der Schatzmeister in Moskau nicht veranlaßt, größere Summen zu überweisen.

Im Kreml möchte man die Scharte wieder auswetzen, die der Friedensvertrag hinterlassen hat. Darin wurde den Tschetschenen bestätigt, nie freiwillig ein Teil Rußlands gewesen zu sein. Darüber hinaus enthielt das Abkommen eine Klausel, die von „gleichberechtigten Beziehungen“ zwischen den Parteien ausging. Grosny interpretierte das bereits als eine De-jure-Anerkennung seiner Eigenstaatlichkeit.

Die Russen sehen das selbstverständlich anders. Nach einem Treffen mit Maschadow im August brachte Präsident Jelzin wieder den Modellfall Tatarstan ins Gespräch, das als erste Republik der Russischen Föderation aus dem Staatsverband ausscheiden wollte. 1994 schlossen Moskau und die Regierung in Kasan einen Vertrag, der dem abtrünnigen Subjekt erhebliche Vorteile gegenüber anderen einräumte. Neben einer eigenen Staatsangehörigkeit können die Tataren über ihre Bodenschätze allein verfügen, Haushalts- und Steuerpolitik selbst gestalten sowie außenwirtschaftliche Beziehungen pflegen. Selbst „Botschafter“ wurden ausgetauscht. Noch lehnt Maschadow dieses Modell entschieden ab. Doch tatsächlich bietet es die bisher beste Lösung für das Unabhängigkeitsstreben der Republiken der russischen Föderation.

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