piwik no script img

„Aufartung“ durch Ausmerzung

Eugenische Zwangssterilisationen begannen nicht erst im Jahre 1933 und endeten nicht nach 1945: Bisher ist erst die Spitze des Eisbergs sichtbar  ■ Von Stefan Kühl

Ein Fall nach dem anderen dringt an die Öffentlichkeit. Erst machte der schwedische Journalist Maciej Zaremba darauf aufmerksam, daß in Schweden bis 1976 über 60.000 geistig behinderte Frauen und Männer größtenteils gegen ihren Willen sterilisiert wurden; aufgrund eines maßgeblich von den schwedischen Sozialdemokraten verantworteten Gesetzes sollte durch die Sterilisation die genetische Struktur der Bevölkerung aufgebessert werden. Dann wurde bekannt, daß auch in Dänemark und Finnland bis in die späten sechziger Jahre jeweils weit über 10.000 Behinderte sterilisiert wurden. Wieder waren Sozialdemokraten maßgeblich an der Formulierung der Sterilisationsgesetze beteiligt. Auch in Norwegen wurden noch bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg 40.000 Menschen zwangssterilisiert. Ziel war auch hier die Verbesserung des Genmaterials der Bevölkerung.

Die Öffentlichkeit reagierte auf Meldungen über Sterilisationen in demokratischen Ländern nach 1945 so überrascht, weil Eugenik, Rassenhygiene und Sterilisation jahrelang ausgeblendet wurden. Die zwangsweise Sterilisation von gut 400.000 Frauen und Männern während des Nationalsozialismus und die Ermordung von 200.000 Behinderten in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs hatte dazu geführt, daß Eugenik und Rassenhygienie als ein Phänomen begriffen wurden, das von rechten politischen Kräften genutzt wurde, um die „Rasse“ durch die „Ausmerzung“ vermeintlich schlechten Erbgutes „aufzuarten“.

Mit dem Niedergang des Nationalsozialismus, so die langjährige Auffassung, hätten auch Eugenik und Rassenhygiene ihren Nährboden verloren. In diesem Verständnis wurden drei zentrale Aspekte der Eugenik nicht wahrgenommen. Erstens wurden Eugenik und Rassenhygiene als Strategie zur „Aufartung“ einer bestimmten Menschengruppe von allen politischen Kräften propagiert. Eugenik und Rassenhygiene beeinflußten die Politik von Sozialdemokraten und Kommunisten genauso wie die von Nationalsozialisten, Liberalen und Konservativen.

Zweitens war die eugenische Politik der Nationalsozialisten nur die extreme Ausprägung einer Ideologie, die sich in fast allen Ländern der Welt finden ließ. Eugenische Bewegungen mit eigenen Gesellschaften, Zeitschriften und Forschungsinstituten gab es in allen europäischen Ländern, in Nord- und Südamerika, in Japan, Indien, China und sogar in einigen afrikanischen Kolonien. Drittens endeten 1945 weder die politischen Versuche zur „genetischen Verbesserung der Rasse“ durch die Sterilisation von Behinderten, noch wurden eugenische Forschungsansätze eingestellt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch eugenische Gesellschaften in den USA und in Europa. Eugenische Forschungsansätze wurden in den sich neu etablierenden Wissenschaften der Bevölkerungswissenschaft und der Humangenetik fortgesetzt. In einigen Ländern, wie Japan, wurden eugenische Sterilisationsgesetze gar erst nach 1945 eingeführt.

Ausgelöst durch die Diskussion über Zwangssterilisationen in Skandinavien vollzieht sich jetzt in der öffentlichen Wahrnehmung eine Differenzierung, die es in der Geschichtswissenschaft schon seit weit über zehn Jahren gibt. Es entsteht ein immer vielschichtigeres Bild von Eugenik und Rassenhygiene, das Schwarzweißinterpretationen und eine Reduzierung der Eugenik und Rassenhygiene auf ein kurzzeitiges nationalsozialistisches „Phänomen“ nicht mehr zuläßt.

Die bisher an die Öffentlichkeit gedrungenen Fakten über Sterilisationen in Skandinavien sind jedoch erst die Spitze des Eisbergs. Bisher ist noch nicht beachtet worden, wie sehr die verschiedenen nationalen eugenischen Bewegungen miteinander verzahnt gewesen sind, wie eng die Kooperation zwischen Eugenikern auch verschiedener politischer Richtungen war und wie stark die einzelnen nationalen Sterilisationsgesetze auf die internationale Unterstützung von Eugenikern und Rassenhygienikern aus anderen Ländern bauen konnten.

Eugenische Politik kann nur als internationales Phänomen begriffen werden. So gelang es den Nationalsozialisten nur deswegen bereits wenige Monate nach der Machtübernahme, ein umfassendes Zwangssterilisationsgesetz zu verabschieden, weil sie sich auf Erfahrungen aus anderen Ländern beziehen konnten. Das nationalsozialistische „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ baute auf Erfahrungen mit Sterilisationsgesetzen in den USA auf, in denen seit 1906 auf gesetzlicher Basis Sterilisationen von sogenanntem minderwertigen Leben durchgeführt wurden. Die US-amerikanische eugenische Bewegung versorgte genauso wie skandinavische Rassenhygieniker die nationalsozialistischen Gesundheits- und Rassenpolitiker mit Erfahrungen über Sterilisation in ihren Ländern. US-amerikanische Eugeniker waren stolz darauf, daß ein von ihnen in den frühen zwanziger Jahren entwickeltes Modellgesetz für Sterilisationen von den Nationalsozialisten in vielen Aspekten übernommen wurde.

Bei dem Wissenstransfer zwischen den einzelnen Ländern spielten die internationalen eugenischen Dachorganisationen seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Auf Grund der vielfachen Bezugspunkte, die das NS- Zwangssterilisationsgesetz zu eugenischen Entwicklungen außerhalb Deutschlands hatte, ist es nicht überraschend, daß es von eugenischen Wissenschaftlern aus Amerika und ganz Europa begrüßt wurde. Selbst Eugeniker, die den Nationalsozialisten ablehnend gegenüberstanden, richteten ihre Kritik an den Nationalsozialisten häufig nicht gegen das eugenische Gesetz, sondern warnten lediglich vor dem „Mißbrauch“ des Gesetzes für die Sterilisation von politisch Andersdenkenden und ethnischen oder religiösen Minderheiten.

Als sich in den dreißiger Jahren Eugeniker aus verschiedenen Ländern und politischen Richtungen zu internationalen Konferenzen trafen, wurde das NS-Sterilisationsgesetz genauso wie die Sterilisationsgesetze in Dänemark, Schweden, Norwegen und der Schweiz ausdrücklich gelobt. Die Regierungen der Welt wurden von der internationalen eugenischen Lobbyorganisation aufgefordert, den europäischen und amerikanischen Vorreitern zu folgen und ihre „minderwertigen Bevölkerungsteile“ durch Sterilisation an der Fortpflanzung zu hindern.

Als nach 1945 das Ausmaß der nationalsozialistischen Massenmorde an religiösen, ethnischen und sozialen Minderheiten bekannt wurde, hatte dies keinerlei Einfluß auf die Sterilisationsgesetze in anderen Ländern. Die rassenpolitisch motivierte Ausmerzungspolitik der Nationalsozialisten taten Eugeniker und Rassenhygieniker außerhalb Deutschlands als Entgleisung ab, die mit der eigentlichen Eugenik nichts zu tun hatte. Man trennte eine „gute“ von einer „unwissenschaftlichen“ und „pervertierten“ Eugenik.

Während die Massenmorde an geistig Behinderten und psychisch Kranken als Exzeß verurteilt wurden, bezeichneten viele Eugeniker außerhalb Deutschlands das nationalsozialistische Sterilisationsgesetz nach wie vor als vorbildlich und wissenschaftlich solide. Daß bei den Massensterilisationen in Nazideutschland auch über 5.000 Menschen, überwiegend Frauen, umgekommen waren, wurde dabei nicht wahrgenommen.

Die nationalsozialistischen Massenmorde führten nach 1945 nicht dazu, daß das Thema Eugenik von der Bildfläche verschwand. Zwar war die rassistische Eugenik in der öffentlichkeit diskreditiert, aber gerade moderate Eugeniker behielten einen nicht unerheblichen Einfluß auf Entwicklungen in Politik und Wissenschaft. Besonders die englischen und amerikanischen eugenischen Gesellschaften propagierten dabei neue Formen der Eugenik. Ihnen schwebte eine über gesellschaftliche Rahmenbedingungen gesteuerte „Bevölkerungskontrolle von unten“ vor.

Diese besonders vom langjährigen Vorsitzenden der American Eugenics Society, Frederick Osborn, und vom Leiter der britischen Eugenics Society, C.P. Blacker, propagierte Strategie sah vor, die sozialen Bedingungen so zu manipulieren, daß „minderwertige“ Menschen „freiwillig“ aufs Kinderkriegen verzichteten. Das Instrument der Zwangssterilisation sollte zunehmend durch eine Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ersetzt werden, in denen „minderwertige“ Menschen finanzielle Vorteile hatten, wenn sie durch Verhütungsmittel, „freiwillige“ Sterilisation oder sexuelle Abstinenz auf Fortpflanzung verzichteten. Für Menschen mit überdurchschnittlicher Intelligenz, psychischer Stabilität und körperlicher und geistiger Gesundheit sollten die gesellschaftlichen Bedingungen so verbessert werden, daß sie sich zu verstärkter Reproduktion angeregt fühlten.

Im Rahmen dieser Strategie einer Eugenik über „Freiwilligkeit“ und „individuelle Entscheidung“ förderten die Eugeniker in Europa und den USA eine ganze Reihe von politischen Maßnahmen, die auch heute noch wirken. So propagierte besonders die amerikanische eugenische Bewegung die Entwicklung von vorgeburtlichen Tests, um bei Erbkrankheiten eine Abtreibung vornehmen zu können. Auch die weltweit ersten humangenetischen Beratungszentren wurden von führenden Mitgliedern der eugenischen Gesellschaften aufgebaut und geleitet. Ferner propagierte besonders die American Eugenics Society die Entwicklung von neuen Verhütungsmitteln, die von sozialen Randgruppen einfach zu benutzen seien. Auch die Kampagne gegen eine vermeintliche Überbevölkerung in der Dritten Welt wurde in den fünfziger Jahren maßgeblich von eugenischen Gesellschaften getragen.

Die Diskussion über die Sterilisation in Skandinavien hat eine lange überfällige Diskussion über die Eugenik nach 1945 ausgelöst. Es besteht jedoch die Gefahr, daß man mit dem Verweis darauf, daß die Sterilisationsgesetze in Skandinavien spätestens in den siebziger Jahren abgeschafft wurden, das Thema Eugenik als geschichtliches Ereignis begreift und schnell wieder zu den Akten legt. Dadurch würde die Chance vergeben, die eugenischen Wurzeln der Behindertenfürsorge, der vorgeburtlichen Diagnostik von Erbkrankheiten, der humangenetischen Beratungsstellen bei der Entwicklung bestimmter Verhütungsmittel und der weltweiten Politik gegen das Bevölkerungswachstum zu thematisieren.

Stefan Kühl ist Historiker und Soziologe in Berlin. Von ihm erschien vor kurzem „Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert“ (Campus Verlag, 1997). Über die Unterstützung US- amerikanischer Eugeniker für die Rassenpolitik der Nazis publizierte er „The Nazi Connection. Eugenics, American Racism, and German National Socialism“ (Oxford University Press, 1994).

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen