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Kleines Glied in großer Kette

Serie „Stets zu Diensten“ (2): Die HändlerInnen der Börse beschaffen Kapital für Firmen Osteuropas. Stadt als „Ost-West-Drehscheibe“ zweitrangig  ■ Von Hannes Koch

Sie bewegen täglich 30 Millionen Mark – oder auch mehr. Pro Kopf. Die Aktienhändlerin Annette Krenzin ist 27 Jahre alt, und ihr Kollege Burkhard Ziegler zählt 29 Lenze. Sekündlich flimmern über ihre Computermonitore im Saal der Berliner Börse Verkaufsangebote für Wertpapiere und Aktien. „Heute waren 20.000 Anteile des russischen Gas- und Ölkonzerns Lukoil dabei – für rund 180 Mark das Stück“, sagt die Händlerin in der braunen Strickjacke.

Durch die Konkurrenz der allmächtigen Deutschen Börse in Frankfurt/Main kräftig unter Druck gesetzt, versucht die kleine Berliner Regionalbörse eine Nische zu finden: Sie spezialisiert sich darauf, Unternehmen in Polen, Tschechien, Rußland und anderen Staaten Osteuropas mit westlichem Kapital zu versorgen.

Beim Senat erfreut sich diese Tätigkeit mittlerweile großer Beliebtheit, denn die Börse gilt als Kristallisationskern der zukünftigen „Drehscheibe zwischen West- und Osteuropa“. Berlin soll sich zum Angelpunkt für wirtschaftliche Entscheidungen, zum finanztechnischen Vermittlungszentrum zwischen den ehemals verfeindeten Blöcken entwickeln.

Der Handel mit Wertpapieren des ehemals sozialistischen Auslands läuft an der Fasanenstraße erst seit 1994 und wird vor allem von zwei Handelshäusern betrieben: Annette Krenzin arbeitet täglich zehn Stunden für die Berliner Freiverkehr (Aktien) AG, Burkhard Ziegler für die Ballmeier & Schulz Wertpapier AG. „Wir stellen ganz nüchtern den Preis der Aktien fest“, beschreibt Ziegler die Tätigkeit. Zeigt der Computer ein Verkaufsangebot für ein Aktienpaket, und die HändlerInnen finden einige Zeit keinen Käufer, der bei diesem Wert einschlägt, wird billiger verkauft. So bestimmen Verkäufer, Käufer und die BörsenhändlerInnen gemeinsam über den Marktwert der betreffenden Firma: Sinkt der Aktienkurs, kann der aktuelle Wert um Millionen fallen – bei steigenden Kursen aber auch zunehmen.

Diese Transaktionen – sie laufen auf diese Art nicht nur in Berlin, sondern an allen Börsen weltweit ab – haben Auswirkungen für Unternehmen, deren Anteile gehandelt werden. Steht der Kurs hoch, kann sich die Firma bei Ausgabe neuer Aktien viel frisches Kapital vom Finanzmarkt besorgen – und viel investieren. Im umgekehrten Fall kommt wenig Geld herein. Und für die Banken ist der Aktienkurs ein Element unter mehreren, anhand derer sie bestimmen, wie viele Kredite ein Unternehmen bekommt.

Außerdem haben die Börsen und Aktienhändler großen Einfluß darauf, welche Firmen überhaupt Zugang zum Handel und damit zu westlichem Privatkapital erhalten. Im Fall der Berliner Börse sind das fast ausschließlich die inzwischen teilprivatisierten Nachfolger der ehemaligen sozialistischen Staatskonzerne. Die russischen Vertreter heißen zum Beispiel Lukoil, Gazprom oder Rosneftegazstroy und beschäftigten sich meist mit der Ausbeutung von Öl-, Gas-, Kohle- und anderen Rohstoffvorkommen. Kleinere, weniger kapitalkräftige Unternehmen der Computerbranche oder gar Hersteller von ökologischen Energieanlagen gibt es an den Börsen kaum – unter anderem, weil sie sich die Zulassungsgebühren nicht leisten können.

So übt die hiesige Börse einen gewissen Einfluß auf die wirtschaftlichen Vorgänge jenseits der ehemaligen Blockgrenze aus. „Wir sind nur ein kleines Glied einer großen Kette“, schränkt Aktienhändler Burkhard Ziegler allerdings ein – die Aktienkurse werden ja nicht nur in Berlin, sondern im Zusammenspiel aller Börsenplätze festgelegt.

Bei Aktien aus Mittel- und Osteuropa allerdings nimmt die Bedeutung des Handelsplatzes an der Fasanenstraße zu. Im Freiverkehr, einer speziellen Art des Aktienhandels, sind schon über 500 Firmen registriert – rund 70 davon stammen aus Osteuropa. 16 Werte werden, außer an ihrer ausländischen Heimatbörse, nur in Berlin verkauft. Tendenz steigend. In diesem Marktsegment dürfte die hiesige Börse mit der Konkurrenz in München und Frankfurt ungefähr gleichauf liegen.

Zum Kristallisationspunkt allerdings hat sich die Börse bisher kaum entwickelt. Zwar stellen die Händlerfirmen immer mal wieder ein paar Leute ein, doch in ihrem Umkreis tut sich nicht viel. Siedeln sich Übersetzer, Rechtsanwälte und andere Dienstleister mit Osteuropa-Spezialisierung an? „Nein, ein Sog ist nicht zu erkennen“, sagt die Wirtschaftsverwaltung.

Markus Gaier von der Außenhandelslobby „Berliner Absatz Organisation“ (BAO) verweist zwar auf die zahlreichen Niederlassungen russischer Banken in Berlin: Von 15 Filialen in der Bundesrepublik residieren 12 an der Spree. Die Zahl der hier ansässigen russischen Firmen schätzt Gaier auf 25. Hinzu kommt ein spezieller Beratungsdienst der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der bundesdeutsche Mittelständler beim Schritt über die Oder unterstützt. Auch die neue Großbank aus Bankgesellschaft Berlin und Norddeutscher Landesbank wird sich mit ihrem später in Berlin ansässigen Immobiliengeschäft in Richtung Osten orientieren. Doch selbst BAO-Mitarbeiter Gaier räumt ein: „Wien, Stockholm und Helsinki sind besser ausgestattet als Berlin.“

Diese Städte waren im Kalten Krieg den Handelsbeschränkungen mit sozialistischen Staaten weit weniger unterworfen, so daß sich dort das Netzwerk aus Firmen, Händlern, Beratern und anderen Dienstleistern besser ausprägen konnte. Während die Börse hier ein recht isoliertes Dasein fristet, ist sie in diesen Städten Teil eines Geflechts. Die Rollen im europäischen Städtesystem sind verteilt, was sich so schnell auch nicht ändern läßt. Berlin kann langsam aufholen, ohne aber Chancen zu haben, in den Rang einer Dienstleistungsmetropole des ersten Ranges aufzusteigen. Die Zahl neuer Arbeitsplätze im vermeintlichen Ost-West-Zentrum wird sich deshalb in engen Grenzen halten.

Die Ost-West-Spezialisierung ist auch bei den in Berlin vertretenen Unternehmensberatern relativ schwach ausgeprägt. Mittlerweile residieren zwar die größten bundesdeutschen und einige wichtige internationale Gesellschaften an der Spree, aber Aufträge mit Bezug zu Osteuropa sind Mangelware. Ein Grund: In der neuen Hauptstadt sitzen zu wenige Zentralen großer Unternehmen, die die Beratungsgesellschaften mit Aufträgen versorgen könnten.

Oft haben die Unternehmensberater ihre hiesigen Ableger deshalb mit anderen Spezialisierungen ausgestattet. Die Filiale der Unternehmensberatung Kienbaum kümmert sich ausschließlich um die Dienstleistungsbranchen, darunter die Medien und die Telekommunikation. Die Statthalter von Arthur D. Little beraten bundesweit öffentliche Verwaltungen, wie sie rationeller und effektiver arbeiten können. Die Investmentbank Barclays hat die Bewag privatisiert und sucht jetzt Käufer für die Berliner Flughäfen. Angesichts der Finanzprobleme des Landes können die Berater mit dem Verkauf öffentlichen Eigentums viel Geld verdienen – im Vergleich dazu mutet das Osteuropageschäft marginal an.

Für die Zeit nach dem Regierungsumzug hoffen die Unternehmensberatungen allerdings auf Zuwachs im Osteuropageschäft. Doch das kann noch dauern. Markus Gaier von der BAO hört den Begriff „Drehscheibe Berlin“ deshalb nicht mehr gerne. Als Ziel nennt er „Kompetenzzentrum zwischen West- und Osteuropa“. Das klingt weniger großartig.

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