: Beschleuniger und Beharrer
Beschau zweier Mediengenerationen: Die 68er saßen noch in der ersten Reihe und wußten, was sie zu lesen hatten; die 89er hingegen flottieren lustig auf allen Netzen, Autobahnen und Kanälen. So jedenfalls meint ein von Jochen Hörisch herausgegebener Sammelband ■ Von Niels Werber
Mit schönster Regelmäßigkeit löst eine Chipgeneration die nächste ab, und jeder neue Prozessor ist schneller und leistungsfähiger. Auch Menschen wachsen ständig nach, doch ist es bei ihnen viel schwieriger, Veränderungen zu generalisieren. Zwar ist für jeden einzelnen der eigene Abstand zu den Eltern meist unübersehbar und genügt für nötige Abgrenzungen, doch ist es heikel, von der Zugehörigkeit zu einer Jahrgangskohorte mehr zu folgern, als offensichtlich ist: daß nämlich alle gleich alt sind. Zu mehr Gemeinsamkeit, etwa zum Geist einer Generation, reicht es kaum, zu zahlreich und gravierend sind all die Differenzen, die mit dem Alter nichts zu tun haben – vom Einkommen bis zum Wohnort, vom Bildungsniveau bis zum Hobby.
In einem von Jochen Hörisch herausgegebenen Sammelband wird dennoch versucht, Generationen vor dem Hintergrund des Wechsels von den 68ern zu den 89ern zu beschreiben. Als Differenz und Motor der Entwicklung dienen Hörisch die anscheinend ohnehin in Etappen sich entwickelnden technischen Medien. Die daher je verschiedene „Mediensozialisation“ mache den Unterschied aus zwischen den 68ern, die in ARD und ZDF alle dasselbe sahen und wußten, was sie zu lesen hatten – „Marx und Freud, Adorno, Marcuse und Habermas, Reich und Mitscherlich, Spiegel, Konkret und Zeit“ –, und den 89ern, deren Angehörige aus einem multimedialen Angebot individuell das Passende auswählen.
Die 68er waren laut Hörisch die letzte Generation, deren Identität noch medial einheitlich geprägt wurde, die 89er sei dagegen die erste Generation, deren einzige Gemeinsamkeit der „souveräne Umgang“ mit der Medienpluralität sei.
Beide aber seien „Mediengenerationen“, also von Medien generierte Generationen. Aufgrund dieser schmalen Basis, die ohnehin unter den 68ern nur die wenigen erfaßt, die Adorno gelesen haben, und von den 89ern nur diejenigen, die pausenlos im Internet surfen, versteigt sich Hörisch zur These eines „20-Jahre-Taktes“ des „Weltgeistes im Medienzeitalter“, der uns seit der französischen Revolution alle 20 Jahre neue Generationen liefere.
Nach dieser schlichten Einleitung, einem Recycling eines NZZ- Feuilletons, überrascht der Sammelband mit einigen Essays von Klasse. Uwe C. Steiner beschreibt den Generationsbegriff als nur „symbolische Realität“, deren Charakteristik allein von den massenmedienfähigen „Selbstbeschreibungen“ der Öffentlichkeit abhänge. Auch die 68er haben ihre Eigentümlichkeit als „Selbstinszenierung“ angesichts der Kameras und Notizblöcke betrieben.
Ihre Gestalt war ein Medieneffekt in doppelter Hinsicht: Ihre Realität – etwa die der Demonstrationen – war wahrnehmbar nur in den Medien, und sie war als solche eine Reaktion auf die Medien, die vorher über Entsprechendes „in Paris oder Berkeley“ berichtet hatten. „Die Realität auf der Straße spiegelte demnach die der Medien.“ Steiner entwirft seine Beschreibungen an einer sehr genauen Lektüre der Literatur der 90er, die in der Fiktion deutlich gemacht habe, daß „1968 in der Tat eine Fiktion war, aber als Fiktion eine Realität“. Also als gängige Selbstbeschreibungsfloskel hat das Markenzeichen 68 eine Wirklichkeit gewonnen, an der tatächlich kaum jemand teilgenommen hat.
Insofern sind die 68er eine Mediengeneration und damit wirklicher als die Wirklichkeit. So viel Luhmann darf es schon sein. Auch die 89er seien eine Realitätskonstruktion nicht der Massenmedien, sondern der Literatur, die in Romanen von Ulrich Woelk, Botho Strauß und Robert Menasse die „symbolische Opposition 68–89“ nutze, um sich selbst „zwischen der Beschleunigungsdynamik medialer Innovationen“ und den „Beharrungskräften der Schriftkultur“ zu situieren.
Daß die Literatur ihre mediale Umwelt nach ganz eigenen Imperativen observiert und einbaut, macht Steiner angenehm deutlich. Generationen sind keine schlichten Abbildungen medial-technischer Verhältnisse, sondern symbolische Inszenierungen vor allem auch der Literatur. In dieselbe Richtung neigt auch Hubert Winkels feinsinnige Analyse des berüchtigten Buches „Eine winterlichen Reise zu den Flüssen oder Gerechtigkeit für Serbien“ von Peter Handke, in dem es um die überaus literarische Artikulation von Zweifeln an der eigenen, „von Medieneffekten produzierten kognitiven und emotionalen Innenwelt“ gehe.
Der massenmedialen Erfindung von Wirklichkeit, die aus bosnischen Opfern „Leidensposen“ werden lasse, leiste Handkes vielbelächelte Sprache nachhaltigen Widerstand, genau wie jene schwere Tür des serbischen Ladens, die sich vom Kunden kaum öffnen lasse, während im westlichen Supermarkt sich die Gleittüren unbemerkt öffneten. Handke halte dem „Gleiten“ der „Netzsurfer“ seine „leibhaftige Anschauung“ und die „Eigenkraft“ der Dinge entgegen – in der Literatur. Der Unterschied der Generationen liege also im „Riß“ zwischen „hypertextueller Dissoziierung und schriftlicher Weltvergewisserung“.
Daß nicht die Medien die Welt verschieden abbilden, sondern erst erfinden, meint auch Norbert Bolz, der die „Studentenbewegung als Eigenwert der Massenmedien“ und den Terrorismus der RAF als „massenmediengerechte“ Reduktion von Komplexität versteht. Genau wie das TV das unendliche komplexe Weltgeschehen in „einfache Geschichten“ verwandele, deren Protagonisten (Politiker etwa) dann für ihren Verlauf verantwortlich gemacht würden, habe die RAF es verstanden, für die Gesellschaft „Systemrepräsentanten“ zu finden, die sich stellvertretend hinrichten ließen. Doch die Gesellschaft läßt sich nicht mehr repräsentieren, sie wird simplifiziert. Und die „Simplifizierung“ der Wirklichkeit durch „Personifikation“ ist die Sache der Massenmedien. Zu alt, um ins Nirwana cyberdelischer Simulation abzutauchen, und zu jung, um den Intimitätsterror der 68er mitmachen zu müssen, habe sich eine Kohorte smarter „Zaungäste“ herangebildet, deren Credo dementsprechend das Beobachten der „blinden Flecke“ ist. Das sozialisierende Medium dieser Virtuosen „zwischen Buch und Computer“ sei natürlich das Fernsehen gewesen. Die „Zaungäste“ haben alles nur an der schwarzweißen Mattscheibe miterlebt, vom Vietnamkrieg bis zur Westberliner Straßenschlacht, Engagement ist ihnen fremd. Heute verweigern sie sich der Virtualisierung der Welt im Cyberdiskurs wie ihrer Naturalisierung durch Ökologen. Sie lassen die „Wirklichkeit einfach die Kontingenz sein, die sie ist“.
1989, das Jahr der Einheit, hat Wolfgang Mühl-Bennighaus zu einer ganz anders gelagerten Analyse inspiriert, die sich nicht am Dual 68–89, sondern am Gegensatz von Ost und West abarbeitet. Seine These lautet, daß die vollkommen unterschiedliche Mediensozialisation in der BRD und DDR Modalitäten der Wirklichkeitskonstruktion geschaffen habe, deren krasse Differenz sich auch nach 89 hartnäckig erhalte. Dies wird im unterschiedlichen Medienkonsum sichtbar. Die „überregionalen meinungsbildenden Blätter“ des Westens haben im Osten keine Chance, und eingeschaltet wird dort nur bei RTL und anderen „kommerziellen Programmanbietern“. Konsumiert werden Unterhaltung oder regionale Nachrichten, beliebt sind Zeitungen mit Ratgebersparte. Da die Medien der DDR ihre Produkte primär an der Partei und nicht am Rezipienten ausgerichtet haben, lauschte der interessiertere Teil des Publikums nach den unfreiwilligen Informationen in den offiziösen Mitteilungen, während der gelangweiltere Teil sich vom Nachrichtensektor ganz in die Unterhaltungssparte zurückzog. Jenseits der öffentlichen Medien habe sich – auch wegen der auf Tausch angewiesenenen Mangelwirtschaft – eine intensive private und orale Kultur entwickelt, deren am persönlichen Umgang entworfene Schemata auf die Funktionsweisen der Westmedien nicht anzuwenden seien.
Der mit der Einheit plötzlich über jeden DDR-Bürger hereinbrechende Anpassungsdruck an die Weststandards der Karriereplanung, des Wirtschaftens und der Kommunikation habe im Gegenzug zu einer Identitätsbildung geführt, die nun von spezifischen Ostmedien gepflegt werde.
Anders konnte es wegen der differenten Mediensozialisation und Kommunikationskultur nicht kommen. Nur die „3- bis 13jährigen“ schauen schon in Ost und West dieselben Programme. Es wird also noch etwas dauern, bis die in den alten und neuen Ländern unterschiedlichen „Mentalitäten“ keine Rolle mehr spielen, so lange etwa, wie die 68er noch zu leben haben.
„Mediengenerationen“. Hrsg. von Jochen Hörisch, Frankfurt am Main 1997, Suhrkamp Taschenbuch, 152 S., 14,80 DM
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