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Eine Miniwende in Rußland

Zum erstenmal seit Einleitung der Reformen wächst die Wirtschaft. Der Haushaltsentwurf der Regierung ist realistisch, wenn die Steuerreform kommt  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Zum erstenmal seit Ende der Sowjetunion verspricht das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) 1997 zu wachsen. Es handelt sich allerdings nur um einen bescheidenen Zuwachs von 0,2 Prozent. Kein Grund für Premierminister Wiktor Tschernomyrdin, sich selbstzufrieden auf die Brust zu klopfen, auch wenn unabhängige Wirtschaftsanalysten sogar einen Anstieg von einem halben Prozentpunkt prognostizieren. Auf die realen Verhältnisse wirkt sich der Aufwärtstrend nämlich nur marginal aus. Wichtiger ist dessen psychologische Wirkung.

Neben der Voraussetzung für ein langsames Wachstum steckt der Staat indes nach wie vor in einer ernsthaften Haushaltskrise. In den ersten neun Monaten klaffte ein Loch von 11,3 Milliarden US- Dollar. Ein Viertel der veranschlagten Steuereinnahmen konnte der Fiskus nicht eintreiben, obwohl die Stellvertretenden Vizepremiers Anatoli Tschubais und Boris Nemzow seit dem Frühjahr die Arbeit der Finanzbehörden zu einem Aufgabenbereich höchster Priorität erklärt hatten.

Trotz allem sehen die Ergebnisse in den Einzelsektoren nicht allzu dramatisch aus. Der Kohlebergbau, dessen Kumpel besonders streikfreudig sind, erhielt immerhin 96,5 Prozent der im letzten Haushalt zugedachten Mittel. Die Wissenschaft mußte sich mit 88 Prozent zufriedengeben. Lediglich das Rechtswesen und der Sozialbereich erhalten ihre vollen Ansprüche. Rechnet man die Zahlungen der ausstehenden Löhne, Gehälter und Pensionen an Staatsbedienstete, Armee und Rentner hinzu, die der Staat bis Anfang September getilgt haben will, wurde in diesem Bereich der Plan sogar um 138 Prozent übererfüllt.

Woher stammen die Gelder, klagt doch der Staat über mangelnde Steuereinnahmen? Der Verkauf von Staatseigentum im laufenden Jahr überstieg die Erwartungen fast um das Fünffache. Darüber hinaus überwies die Zentralbank ansehnliche Gewinne. Auch die Erlöse aus dem Export legten um 16 Prozent zu. Allerdings wurden die Rechnungen in der Rüstungsindustrie nicht beglichen, der Investitionsfonds nicht aufgestockt, und die Subjekte der Föderation erhielten nicht, was ihnen zusteht.

Schwer zu kämpfen haben besonders die Leicht- und Konsumgüterindustrie, die Lebensmittelbranche und der Maschinenbau. Wenn sie das Produktionsniveau des Vorjahres halten könnten, wäre das schon ein Erfolg.

In einer nicht bindenden Resolution nannte das Parlament, die Duma, die Leistung der Regierung „unbefriedigend“. Den Haushaltsentwurf für 98, der gestern in seine erste Lesung ging, schickten sie unterdessen zur Überarbeitung in eine gemeinsame Schlichtungskommission. Experten und westliche Beobachter halten den neuen Entwurf für den ersten verantwortungsbewußten und realistischen Haushalt seit dem Zusammenbruch der UdSSR. Er sieht im kommenden Jahr einen Anstieg des BIP von zwei Prozent voraus, während die Industrieproduktion und die Landwirtschaft um drei Punkte zulegen. Das Realeinkommen der Bevölkerung wird mit einem Wachstum von zwei bis drei Prozent veranschlagt.

Von 80 Milliarden US-Dollar Staatsausgaben geht der Entwurf aus, denen auf der Einnahmeseite nur 58 Milliarden Dollar gegenüberstehen. Das Defizit beläuft sich auf 4,8 Prozent des BIPs. Allerdings bezieht diese Rechnung die Schuldentilgung mit ein. Ohne den Schuldendienst fiele das Bild mit 0,42 Prozent BIP günstiger aus.

Kritiker bemängeln indes nicht zu Unrecht, daß die Bemessungen bereits von Staatseinnahmen ausgehen, die auf einer neuen Steuergesetzgebung basieren, die erst am 1. Januar in Kraft treten soll. Das Gesetz ist jedoch noch nicht verabschiedet. Selbst im günstigsten Fall nimmt die Implementierung neuer Maßnahmen in Rußland eine recht beträchtliche Zeit in Anspruch.

Im Vorfeld hatten die Kommunisten angedroht, den Entwurf gleich an die Regierung zurückzuschicken. KP Chef Gennadi Sjuganow ließ in einer Grundsatzrede denn auch kein gutes Haar an der Regierungspolitik. Seine Fraktion hatte zudem Untschriften gesammelt, um die Regierung durch ein Mißtrauensvotum zu Fall zu bringen. Die Abstimmung darüber wurde auf nächste Woche verschoben. Die Bereitschaft, den Haushalt in einer Schlichtungskommission zu überarbeiten, signalisiert die gemäßigte Haltung der größten Oppositionsfraktion. Sie weicht einem Konflikt mit Präsident Jelzin aus, der Neuwahlen ansetzen könnte, wenn der Gesetzgeber den Haushalt nicht annimmt. Die einzige Fraktion, die auf das Mißtrauensvotum noch diese Woche bestand, waren die liberale Partei Jabloko und ihr Chef Grigori Jawlinski. Er warf den Kommunisten Feigheit vor. In der Tat zögern viele KP-Abgeordnete, weil sie fürchten, nach Neuwahlen nicht mehr auf die komfortablen Parlamentssitze zurückzukehren.

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