■ Schlagloch
: Im Reich der codierten Freiheit Von Klaus Kreimeier

„In Deutschland gibt es z.Zt. etwa vier Millionen Hörapparate. Die Zahl hat sich innerhalb von zwei Jahren verdoppelt, und es muß betont werden, daß der größte Teil der Apparate Arbeitern gehört.“

Bericht des Internationalen Arbeitsamtes vom Jahre 1929

Vor 70 Jahren machten sich die nationalen Gewerkschaftsverbände und internationalen Arbeitsorganisationen Gedanken über die Medienentwicklung und lieferten jene Statistiken, für die heute die GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) zuständig ist. Die nationale Vollversorgung mit Hörapparaten, sprich Radiogeräten, dauerte ihre Zeit, bis sie sich ab 1933 mit der Einführung des Volksempfängers erheblich beschleunigte und rechtzeitig zu Beginn des Zweiten Weltkrieges so gut wie abgeschlossen war. Die Durchdringung des Volkskörpers mit Hilfe des Fernsehens seit Beginn der 50er Jahre benötigte dann wieder etwa anderthalb Jahrzehnte. Inzwischen ist dieses Medium alt geworden, als „Leitmedium“ hat es schneller ausgedient als alle anderen technischen und vortechnischen Medien zuvor.

Nun geht mit dem Decoder für das Digitalfernsehen alles wieder von vorn los. Die vier Millionen angeschlossenen Kunden werden bald erreicht sein – eine andere Frage ist, wann und ob überhaupt die GfK Vollversorgung melden kann. Nicht nur fragt sich derzeit noch eine Mehrheit verständlicherweise, warum sie künftig für etwas – und noch dazu: für das Zweiterfreulichste auf der Welt, nämlich Fußballübertragungen im Fernsehen – zahlen soll, was bisher mittels „Free TV“ gratis zu haben war. Hinzu kommt, schwerer wiegend, der um sich greifende Verdacht, daß mit dem rasanten Durchmarsch der technischen Errungenschaften, die zur Zeit das Etikett der „digitalen Revolution“ tragen, unser Leben nicht etwa einfacher, sondern komplizierter, nicht klarer, sondern undurchschaubarer – und auf keinen Fall billiger, sondern erheblich teurer werden könnte.

Was noch immer altmodisch „Freizeit“ genannt wird – obwohl es für immer mehr Menschen schlichtweg Lebenszeit geworden ist –, droht zu einem schwer zu bewältigenden Problem zu werden. 1932 konnte man bei dem Soziologen Andries Sternheim in der später berühmt gewordenen Zeitschrift für Sozialforschung lesen: „Nirgends stärker als bei der Freizeitverwendung kommt es darauf an, inwieweit die den Menschen innewohnenden Triebregungen und geistigen Bedürfnisse bereits in dem Arbeitsprozeß selbst teilweise oder völlige Befriedigung finden oder, indem sie in ihm ungesättigt bleiben, auf andere Weise befriedigt werden müssen.“

Das war noch die vergleichsweise heile Welt der Klassenkämpfe. Die Majorität der arbeitenden Bevölkerung malochte in den Fabriken 50 Stunden in der Woche und mehr und suchte für ihre libidinösen und destruktiven Regungen in den Opiaten der bürgerlichen Filmindustrie nach Erfüllung, während die Gewerkschaften und linken Parteien für eine klassenbewußte Triebbefriedigung in den Arbeitersportvereinen oder in der sozialistischen Radiobewegung trommelten. Heute hingegen stellt sich für den Jugendlichen ohne Lehrstelle, für den Langzeitarbeitslosen und für den freiwillig oder notgedrungen in den Frühruhestand Ausgemusterten im Zusammenhang mit der „Freizeitverwendung“ die umfassendere Frage, wie er sein Leben überhaupt verwenden soll.

In noch vagen Umrissen zeichnet sich eine Entwicklung ab, die, jedenfalls in den reichen Industrieländern, in ein seltsames, nicht besonders anheimelndes Reich der Freiheit münden könnte. In ein High-Tech-Paradies, das jedem seine Nische zuweist, in der er an den Segnungen der Multimedia- Zivilisation auf seine Weise und mit seinen jeweils begrenzten Mitteln partizipieren darf. Verlagerungen finden statt: von der Klassenfrage der ersten Jahrhunderthälfte auf die Frage der Nischenzugehörigkeit; vom ökonomischen Massenelend zum Problem wachsenden psychischen und intellektuellen Elends vieler einzelner; vom Bedürfnis, die Freizeit sinnvoll zu gestalten, zur existentiellen Kernfrage: wie dieses Leben menschenwürdig einzurichten sei, wenn der Konsum keinen Spaß mehr macht, weil eine wachsende Zahl von Konsumenten zunehmend unterfordert und an einer zielgerichteten Verausgabung ihrer Energien gehindert wird.

Der Decoder hätte in solcher Entwicklung seinen genau bestimmbaren Ort und sozialpsychologischen Stellenwert: als Simulationsmaschine, die dem angeschlossenen Endverbraucher so etwas wie aktive Teilnahme am digitalen Fortschritt und an der Totalität der (Bilder-)Welt suggeriert, während er de facto im emotionalen und intellektuellen Abseits vegetiert. Die Weichen in die bereits Gegenwart gewordene Medienzukunft werden, Zug um Zug, so gestellt, daß sich die neue Klassenteilung zwischen einer Minderheit „medienkompetenter Verantwortungsträger“ und jener großen Mehrheit, die nur angeschlossen ist, von selbst ergeben dürfte. Den Politikern, die zur Zeit mit dem Begriff der „Medienkompetenz“ jonglieren und mit mehr oder weniger Fortune Kampagnen wie „Schulen ans Netz“ vom Zaun brechen, ist immerhin zuzugestehen, daß sie die makroökonomische Brisanz der technologischen Entwicklung begriffen und für die Elite ihres Landes zweifellos das Beste im Sinn haben. Aber in den Mikrobereichen des Alltags, wo es um soziale Teilhabe und kulturelle Bedürfnisse geht, kennen sie sich nicht aus.

Daß Ende der 20er Jahre die größte Zahl der „Hörapparate“ im Besitz von Arbeitern war, sollte sich als vorteilhaft für eine Machtclique erweisen, die vornehmlich über das Ohr das Bewußtsein ihrer Klientel zu erreichen suchte und 1933 erst einmal das Spiel gewann. Der Decoder, der ja auch eine Zerstreuungs- und Dezentralisierungsmaschine ist, wird für dergleichen Überwältigungsstrategien nicht besonders tauglich sein. Ideologieverdacht läge hier schief. Das Problem dieses Apparates besteht eher gerade darin, daß er harmlos ist – zu harmlos und einfältig, um die Kommunikationsbedürfnisse in komplizierten und ausdifferenzierten gesellschaftlichen Strukturen zu bedienen. Rabiat ist eine andere Strategie, als deren Instrument er sich bewähren wird: die Strategie der Enteignung öffentlichen Lebens, die nun Leo Kirch und ein paar andere mittels Codierung und kostenpflichtiger Decodierung zu ihrem Privatbesitz machen wollen.

Die menschliche Natur sei nicht so elend, „daß zu ihrer Domestizierung die heutige, auch von ihren Verteidigern als unbefriedigend beurteilte Zivilisation nötig wäre“: auch dieser Satz stand, noch Anfang 1933, in der Zeitschrift für Sozialforschung. Man kann es auch so formulieren: Die Menschheit, die mit den digitalen Techniken brauchbare Arbeitsinstrumente geschaffen hat, hat es nicht verdient, daß man sie mit Decodern abspeist, an denen sich ein paar Tycoons eine goldene Nase verdienen wollen.