: Pathos-Entertainment
■ Das Kronos Quartett spielte zwischen Marketing, Betstuhl, E- und U-Musik
Das Faltblatt mit dem Programm des Abends hatte den gleichen Text wie das Booklet der CD. Die dauert so lange wie das Konzert am Mittwoch abend, ohne Zugaben gut 70 Minuten, und trägt denselben Namen, unter dem auch das Konzert angekündigt war: Early Music. Alles beim Kronos Quartett, das im Rahmen seiner „Early Music Tour“in der Johanniskirche in Harvestehude auftrat, ist auf Marketing abgestimmt. CD-Verkaufstisch am Eingang, Lightshow, Seidenhemden und Minikleid. Kronos vermarktet Klassik wie Pop. Und kommt an damit. Die Kirche war bis auf den letzten Notstuhl besetzt. Was sonst Popkonzerten gelingt, gelang hier der sogenannten E-Musik: Einverständnis zwischen Musikern und Hörern. Die Botschaft kam nicht nur an, sie ging um. Und kam sogar zurück.
Die vier Avantgarde-Streicher aus den USA haben offenbar ein Gespür für die Gemütslage ihrer Anhänger. Wenn draußen die Blätter fallen und kalter Hauch die Herzen streift, brauchen die Leute Wärme, Andacht, das Gefühl von Aufgehobensein. Das schützende Dunkel der hohen Backsteinkirche war der rechte Ort für derlei Bedürfnisse. Links überm Publikum hing – wie sonntags die Tafel mit den Gesangbuchnummern – ein Programmtransparent von der Empore.
Und – ob mit Guy de Machauts Kyrie oder Hildegards von Bingen O virtus sapientiae, ob mit Pärts Psalom oder Cages Totem Ancestor – die Musik verwandelte sakralen in weltlichen Trost. Die Seele hat ihre eigene Liturgie, und die ist grenzenlos wie Jack Body's Long-Ge, das auf einem chinesischen Thema gründet, oder wie die Bearbeitung traditioneller schwedischer und afrikanischer Folklore. Und zeitlos wie Thomas Tallis' Spem in Allium oder Schnittkes Collected Songs Where Every Verse Is Filled With Grief. Kaum war beim schlichten Hinhören auf diese ausnahmslos besinnliche, pathetische Musik auszumachen, was „alt“und was „modern“war, so modern klang das Alte, so archaisch das Moderne.
Das Paradox, daß Grenzüberschreitungen zu Einkehr führen und Pathos zu Entertainment, ist typisch für Kronos. Gut. Und schön dazu. Stefan Siegert
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