■ New York im Aufwind. Treibende Kraft sind dabei die Immigranten, die die innerstädtischen Slums übernommen haben. Die Weltstadt am Vorabend der letzten Bürgermeisterwahlen im 20. Jahrhundert Von Peter Tautfest: Babylon oder Jerusalem?
Wenn Rudolph Giuliani am 4. November die Bürgermeisterwahlen gewinnt – und es sieht nicht danach aus, als würde er sie an Ruth Messinger verlieren –, dann gibt es dafür vor allem einen Grund: Unter der Regierung des Republikaners in den vergangenen vier Jahren ist in New York gelungen, was bisher noch keine andere Stadt in Amerika erreicht hat – die Renaissance der Stadt und die Wiederauferstehung des urbanen Raums.
Was Paris für das 19. Jahrhundert war, ist New York für das zwanzigste – die Hauptstadt der Welt. Daß die ausgerechnet in Amerika liegt, ist eine Ironie der Stadtgeschichte, denn Amerika hat seine Städte weitgehend aufgegeben. New York ist die Ausnahme und galt bis vor ein paar Jahren eher als das Menetekel vom Untergang der Stadt denn als deren Vorbild – Babylon eher als Jerusalem.
New York war synonym für Slums, Armut, Verkehrschaos, hohe Preise und Mieten, hohe Steuern und nervenaufreibende Dichte – kurz für all das, wovor Amerikaner seit dem Bau der Interstate Highways in den fünfziger Jahren flohen. In den siebziger Jahren verlor New York zehn Prozent seiner Bevölkerung. Die Volkszählung von 1990 bilanziert das Ergebnis. Fünfzig Prozent der Amerikaner leben in Suburbia und nur noch ein Drittel in Städten. Heute sehen amerikanische Städte aus wie Bagels, jene kreisrunden amerikanischen Brötchen mit einem Loch in der Mitte. Von ein paar Ausnahmen abgesehen sind Amerikas Städte nicht mal am Tag belebt, und nachts sind sie schwarze Löcher, in denen man eher auf Ratten als auf Menschen trifft.
Seit ein paar Jahren aber zeichnet sich ein Wandel ab. Einzelne Städte, allen voran New York, erleben eine Renaissance und beleben sich wieder. Immigranten sind dabei die treibenden Kraft. Nehmen wir die Church Avenue in East Flatbush im Stadtteil Brooklyn. Wer hier aus der U-Bahn steigt, denkt, er sei in Jamaica. Das Gedränge auf dem Gehsteig ist so groß, daß es sich mit dem Verkehr auf der Fahrbahn mischt. Behindert wird man beim Fortkommen von Auslagen tropischer Früchte, von Werkstätten, die ihre Arbeit auf die Straße verlegt haben, von spielenden Kindern, schwer schleppenden Frauen, schreienden Zeitungsverkäufern, herumlungernden Männern – und verstehen tut man kein Wort. Vor zehn Jahren sah das hier noch ganz anders aus. Die Häuser waren weitgehend verlassen und verfielen, durch die Straßen trieb der Müll, an der Ecke standen Pusher. Der Niedergang in Brooklyn und der Bronx, in Queens und in Teilen von Manhattan war das Ergebnis von weißer Stadtflucht und Deindustrialisierung. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs verlor New York drei Viertel seiner industriellen Arbeitsplätze. New York ereilte das gleiche Schicksal wie Chicago und Pittsburgh. Die Innenstädte begannen zu sterben, die Städte verloren ihre Steuerbasis, die Kriminalität stieg, was die Flucht der Weißen beschleunigte.
Doch dort, wo wie in New York in den Innenstädten noch gute Bausubstanz steht, rückt jetzt die neue Welle der Immigranten ein. Sie kommen aus Mittel- und Südamerika, aus der Karibik und aus Südostasien, aus Osteuropa und Zentralasien. Sie nehmen die zu Slums heruntergekommenen Stadtteile ein. Die Zahlen erinnern an die Völkerwanderung Anfang dieses Jahrhunderts. 1920 waren vierzig Prozent der New Yorker im Ausland geboren, heute sind es ein Drittel – wozu noch die zwanzig Prozent gezählt werden sollten, die Kinder von Immigranten sind, denn Einwanderer haben eine hohe Geburtenrate. Ein Drittel der Frauen New Yorks sind Immigrantinnen, sie bringen 43 Prozent der Neugeborenen zur Welt. Ohne diesen Zuwachs würde New York einen Bevölkerungsverlust von 7,3 Prozent verzeichnen.
Auch der Rückgang der Verbrechen, der New York auf einmal auch für Weiße und Touristen wieder attraktiv macht, hat mit der neuen Immigration zu tun. Vielen neuen Einwanderern gelten die New Yorker Verhältnisse als paradiesisch. Ihr Maßstab für Lebensstandard und Wohnqualität sind die Elendsviertel von Port-au- Prince und La Paz. Die lateinamerikanischen, karibischen und asiatischen Einwanderer überleben im teuren New York durch das Zusammenwerfen von Familieneinkünften und das Teilen von Ressourcen. Sie sind stark familien- und clanorientiert und üben eine entsprechend starke Binnenkontrolle auf Angehörige aus. Sie kommen, um zu arbeiten, und haben Angst vor Deportation.
Immigranten aber sind nur der eine Teil des Gemischs, das New Yorks Erfolgsmotor treibt, die Menschen. Die andere notwendige Zutat ist Geld, und das wird vor allem am anderen Ende der Stadt und der sozialen Leiter gemacht. Die Rentendiskussion hat in Amerika dazu geführt, daß mehr Amerikaner als je zuvor in Aktien und Investmentfonds investieren, mit dem Ergebnis, daß mehr Geld als je zuvor durch Wall Street fließt. Börsenmakler und Anlageberater fuhren letztes Jahr Rekordgewinne in Höhe von 11.3 Mrd. Dollar ein. Das Bankgeschäft ist noch immer New Yorks wichtigster Wirtschaftszweig. Wie dünn diese fast monokulturelle Basis ist, wird deutlich, wenn man sich klarmacht, daß ganze 145.000 New Yorker mit ihren Einkünften für vierzehn Prozent des Steueraufkommens sorgen.
Doch hat New York außer den traditionellen Zweigen Mode und Medien, zwei weitere Wirtschaftsbereiche ausbauen können: Film und Tourismus. Mehr und mehr Filme werden in New York gedreht, New York bildet den Hintergrund für fünf der populärsten Fernsehserien. Nicht alle Szenen werden in der Stadt gedreht, aber daß Millionen Zuschauer allabendlich die Seinfeldt-Serie sehen, trägt dazu bei, daß New York zur Zeit den größten Tourismusboom seiner Geschichte erlebt.
Und dann ist da Silicon Alley. Zwischen Wall Street am unteren Ende von Manhattan und den Medien-Mogulen wie NBC, CBS, ABC, Viacom und Fox TV um den Times Square haben sich südlich der 41. Straße in den letzten Jahren 700 Kleinfirmen angesiedelt, die „Content“ herstellen: Multimediasoftware für Internet und CD- ROM, Webseiten und Internetwerbung, Interfaces für Dienstleistungen im Internet und Online Publishing. Diese Betriebe machen fünfzig Prozent aller Firmenneugründungen im Medienbereich aus und stellen heute 18.000 Arbeitsplätze. Das ist nicht viel, aber 39.000 sollen es in den nächsten drei Jahren werden, und das ist eine beachtliche Wachstumsrate. Nach einer Studie von Coopers & Lybrand werden die Umsätze der Cyberindustrie in drei Jahren die von Fernsehen und Kabelprogrammen zusammen eingeholt haben.
Just im Zeitalter des Modems und einer Technologie, die das Ende urbaner Tuchfühlung einläuten sollte, verlangt ausgerechnet diese Industrie nach städtischer Dichte und zieht nach New York. – Warum?
New York ist noch immer ein Talentmagnet, hier hört man auf der Straße bessere Musik als andernorts im Konzertsaal. Kunst- und Theaterszene, Literaturbetrieb und Unterhaltungsindustrie bilden Ideenbörse und Absatzmarkt zugleich. New York hat das dichteste städtische Verkehrsnetz in ganz Amerika. „In New York kann ich an einem Tag mehrere Verabredungen einhalten, das wäre an der Westküste unmöglich“, zitiert die Studie einen ungenannten Firmengründer.
Der ethnische und soziale Umbruch ändert die Regeln für das Ausbalancieren von Interessen. New York ist immer eine ethnisch und territorial balkanisierte Region gewesen, in der Manhattan gegen die vier Outer Boroughs und die Völker gegeneinander ausgespielt wurden. Während Manhattan mit seinen Hochhäusern die eher europäische Stadt mit hohem schwarzen Wähleranteil war, waren die anderen vier Außenstädte mit ihren Einfamilienhäuschen und Gärtchen und vorwiegend weißer Bevölkerung ein Abbild Restamerikas. Durch das Verschwinden der Arbeiterschaft und der Mittelschicht in deren Hochburgen Brooklyn, Queens und der Bronx ändert sich das soziale und territoriale Gleichgewicht der Stadt. Der an libanesische Verhältnisse erinnernde Balanceakt zwischen den traditionell dominierenden Iren, Italienern und Juden muß heute ganz neu Gruppen ins Kräfteparallelogramm einbeziehen. Heute kann es sich kein Politiker leisten, die hispanische Bevölkerung, die Chinesen, Koreaner, Araber und Westinder zu übergehen.
Doch noch hängen Wolken über dem Horizont. New York hat noch immer die höchsten Mieten im Lande und die höchsten kommunalen Steuern. Firmenansiedlungen in New York sind um 25 Prozent teurer als im ganzen Land und gar um vierzig Prozent höher als im sogenannten Sun Belt. Da sind Metropolen wie Houston und Oklahoma City günstiger. New York trägt auch eine überproportional hohe Last an Sozialkosten. Böse Zungen sagen, New York trägt die Kosten des amerikanischen Sozialstaats fast eigenhändig. Auch die Infrastruktur ist arg verbesserungsfähig. Jahrelange Vernachlässigung aufgrund von Haushaltsknappheit hat dazu geführt daß die Kosten für Reparatur der Straßen und Brücken in die Hunderte von Milliarden Dollar gehen würden. Und dann ist da das Schulsystem. Die Qualität der Schulen entscheidet in Amerika noch immer, wo Menschen sich ansiedeln wollen. Die meisten verlassen die Städte, weil die Schulen in den vorwiegend weißen Vororten besser sind. Zurück bleiben überfüllte und schlecht ausgestattete städtische Schulen, die einen immere größeren Prozentsatz von Kindern aufnehmen, die von Hause aus nicht englisch sprechen.
Letztes Jahr legte die „Regional Plan Association“, ein privater Think Tank zwei mögliche Szenarien für New York im Jahre 2020 vor. Das eine entwirft eine von anhaltendem Bevölkerungsverlust und Firmenabwanderung gezeichnete urbane Wüste, in der einzelne Wohlstandsoasen von aufbrechenden Straßen und verfallender Bausubstanz umgeben sind, und die Menschen nur unzureichend von einem überalterten Nahverkehrssystem befördert werden und deren Kinder in überfüllten Schulen nicht mehr ausgebildet werden. Das andere zeichnet ein Panorama lautlos gleitender Schnellzüge, die den Großraum mit der Kernstadt verbinden, in der Straßen, Brücken und das U-Bahn-System repariert und modernisiert sind, in dem das Bildungssystem sich auf lebenslanges Lernen eingestellt hat und auch „Erwachsenen Fortbildung anbietet, damit sie den Anforderungen einer High- Tech-Metropole genügen können. Eine Stadt, in der die Kirchturmpolitik der Stadt gegenüber der Region und der Teilstädte gegenüber der Gesamtstadt regionaler Planung gewichen ist.
Wenn die entsprechenden Investitionen in New Yorks Infrastruktur nicht gemacht werden, verliert die Stadt die Zukunft an solche Global Cities wie Singapur, Kuala Lumpur, Paris, London, Berlin.
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