: Die Mittelschicht bröckelt ab
Gutachten des Sozialforschungsinstituts WSI zu Verteilung: Beschäftigte müssen immer mehr zum allgemeinen Steueraufkommen beitragen. Unternehmen horten hingegen immer dickere Polster an Eigenkapital ■ Von Ingo Zander
Im Gegensatz zur häufig vertretenen Meinung, daß Deutschland ein Standortproblem habe, vertritt das DGB-nahe wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in einem noch unveröffentlichten Bericht eine entgegengesetzte Auffassung. Der Bericht befaßt sich mit der Verteilungspolitik in Deutschland 1996/97 und den Vorjahren. Deutschland bekomme ein echtes Wettbewerbsproblem, wenn die heute schon sehr ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen nicht bald korrigiert werde, heißt es in dem Gutachten.
Komme es nicht zu einem Paradigmenwechsel in der Politik, werde sich die Bundesregierung den Vorwurf zuziehen, am Selbstmord des staatlichen Handlungsspielraums und damit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit aktiv mitzuwirken, schreibt WSI-Forscher Claus Schäfer.
Das WSI spricht davon, daß sich „faktisch zwei Steuersysteme“ in Deutschland herausgebildet haben. Während die Arbeitseinkommen zu über 90 Prozent dem Fiskus bekannt würden und der Besteuerung unterworfen würden, seien die Einkommen aus Gewinn beziehungsweise selbständiger Tätigkeit und Vermögen nur zur Hälfte bekannt. Die Folge: Der Anteil der „Massensteuern“ (Lohn-, Mehrwert- und Mineralölsteuer) am gesamten Steueraufkommen betrug im Jahr 1996 knapp 73 Prozent, während er 1980 nur 62 Prozent ausgemacht hatte.
1996 seien die Ausrüstungsinvestitionen der deutschen Produktionsunternehmen weiter gestiegen. Entscheidend für die Lagebeurteilung sei die erhebliche Verbesserung der finanziellen Polster in den Produktionsunternehmen. „Sie brauchten im vierten Jahr hintereinander immer weniger Fremdkapital für ihre Aktivität, 1996 sind es nur noch 91,7 Milliarden. 1991 bis 1993 waren es noch jährlich rund 170 bis 190 Milliarden Mark“, schreibt Schäfer. Die mit 30 Milliarden vermeintlich hohe Inanspruchnahme des Aktienmarktes täusche einen hohen Finanzbedarf von außen nur vor, „weil allein 20 Milliarden davon auf den Börsengang der Telekom zurückzuführen sind“.
Die Klagen über die ostdeutschen Unternehmen seien zu relativieren, weil viele Ostunternehmen im Besitz von westlichen Unternehmen sind, denen es gut gehe und die Investitionsmittel zuschießen könnten – wenn die Binnennachfrage auch im Osten vorhanden wäre. „Offenbar aber lohnt es sich immer noch eher, mit höheren Lohnkosten im Westen und zusätzlichen Transportkosten für den Osten zu produzieren, was nicht nur am Produktivitätsgefälle zwischen Ost- und Westdeutschland liegen kann.“
Das WSI spricht auch bei den Arbeitseinkommen von Polarisierungen – einmal innerhalb der Vollzeitbeschäftigten, zum zweiten zwischen den Vollzeitbeschäftigten und der wachsenden Anzahl nicht Vollzeitbeschäftigter. Die politisch geforderte „Spreizung“ der Arbeitseinkommen sei schon lange von der Wirklichkeit vorweggenommen worden.
Die Gruppe der Arbeitnehmer mit sozialversicherungspflichtigen Einkommen, die nur bis zu 75 Prozent des Durchschnittseinkommens verdienen, hat an Bedeutung gewonnen. Sie machte 1975 nur knapp 30, im Jahre 1990 aber 37 Prozent der Beschäftigten aus. Gleichzeitig haben nach WSI-Berechnungen dagegen „Mittelstandseinkommen“ in der Arbeit (sozialversicherungspflichtige Arbeitseinkommen zwischen 75 und 125 Prozent des Einkommensdurchschnitts) deutlich an Bedeutung verloren. Der Anteil ihrer Bezieher sank bei Vollzeitbeschäftigten im gleichen Zeitraum von 56,1 auf 47,5 Prozent.
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