: Seit genau einem Jahr sind die Ladenschlußzeiten gelockert. Drei Viertel der Käufer gehen seither auch nach 18 Uhr in die Läden, doch mehr gekauft wird trotzdem nicht. Dem Personal werden die Überstunden hinter der Theke nur in den großen K
Seit genau einem Jahr sind die Ladenschlußzeiten gelockert. Drei Viertel der Käufer gehen seither auch nach 18 Uhr in die Läden, doch mehr gekauft wird trotzdem nicht. Dem Personal werden die Überstunden hinter der Theke nur in den großen Kaufhäusern mit Freizeit vergütet.
Warten, bis der Kunde kauft
Manchmal schimpft er nur oder rülpst. Manchmal fällt er kopfüber zwischen die Bierdosen. Nicht selten steckt er sich eine Flasche Wodka unter die Jacke. König Kunde hat keine Krone auf bei Kaiser's in der Berlin-Kreuzberger Wrangelstraße. König Kunde hat auch kein Geld. Glaubt man Frau Erdmann, dann ist er oft ein unausstehlicher Zeitgenosse. „Die kommen hier rein und sind schon morgens besoffen“, erzählt die stellvertretende Filialleiterin und schüttelt ein paar Bonbontüten zurecht. „Meine Kollegin wurde mit der Pistole bedroht. Und wenn abends der Laden voll ist, geht die Klauerei erst richtig los.“ Die weiß bekittelte Dame läßt sich nichts vormachen. „An die Öffnungszeiten werde ich mich nie gewöhnen.“
Muß sie aber. Seit genau einem Jahr darf jeder Laden der Republik bis 20 Uhr offenbleiben. Und niemand denkt ernsthaft darüber nach, diese Regelung zurückzunehmen. Die Kundschaft hat sich längst daran gewöhnt. Sie schert sich wenig darum, daß die Auguren der Gewerkschaft nicht ganz daneben lagen mit ihren pessimistischen Prognosen. Statt Umsatzzuwachs in Milliardenhöhe wird eher weniger gekauft. Statt Zigtausende von Arbeitsplätze zu schaffen, wird entlassen. Entsteht endlich eine neue Stelle, taugt sie nur als Teilzeitjob.
Ohne Ende könnte man so weiterjammern, doch auch Manfred Birkhahn von der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) Berlin hat keinen Spaß an der Rechthaberei. „Wir würden uns freuen, wenn die optimistischen Ankündigungen der Regierung eingetroffen wären“, sagt er, „aber inzwischen steigen immer mehr Läden aus der Regelung aus, weil keine Kunden kommen.“
Bei Kaiser's in der Wrangelstraße hat man Kundschaft. Die weniger beliebte Sorte sitzt vor der Tür oder torkelt aus dem „Bierhaus 2“ auf der anderen Straßenseite herüber, um sich im Supermarkt mit geistigen Getränken einzudecken. Die bequemere Sorte schiebt sich nebst Kinderwagen und Hund durch die Gänge, junge Männer wühlen in gefrorenen Hühnerbeinen, ältere Damen irren durch die Reihen.
„Ich werd' verrückt, wenn ich das sehe“, sagt Filalleiterin Erdmann und zeigt auf die lange Schlange vor der Kasse. „Von acht bis acht ist der Laden offen. Aber wir haben immer weniger Mitarbeiter.“ Die Belegschaft arbeitet in zwei Schichten. Früh kommen die Leute mit kleinen Kindern, wer Single ist, hat Pech gehabt. „Vor neun Uhr bin ich fast nie zu Hause“, sagt eine 21jährige Halbtagskraft, die nur nachmittags eingesetzt wird. „Das Privatleben kannste vergessen.“
Zuschläge für Überstunden, extralange Wochenenden, langfristige Freizeitplanung? In vielen kleinen Filialen sind solche Forderungen meilenweit von der Realität entfernt. Bis zu 16 Stunden am Tag schiebt Frau Erdmann Dienst, wenn keine Ablösung zur Verfügung steht. „Aufstehen um drei, aufschließen um halb fünf für den Brotmann. Dann die Ware einräumen und den ganzen Tag stehen. Zehn nach acht sind dann die letzten Kunden draußen, und wir fangen mit der Abrechnung an.“
Frau Erdmann und ihre KollegInnen, fast alles Frauen, haben sich arrangiert mit den familienfeindlichen Arbeitszeiten. Nur mühsam gewöhnen sie sich dagegen daran, daß Höflichkeit jetzt oberste Dienstpflicht ist.
In ihrer Filiale herrscht der übliche Berliner Schnodderton. „Dünner, den Schinken!“ mault eine junge Frau an der Theke. „Ist doch eklig“, mault die Fleischmamsell zurück. „Wir werden hier angepöbelt von Halbstarken. Und da soll man freundlich bleiben?“ fragt Frau Erdmann. „Ich graul' mich richtig, wenn es dunkel wird.“
In Schöneberg, im hellerleuchteten KaDeWe, hat man andere Sorgen. Das Kaufhaus am Tauentzien gehört – wie die meisten großen Konsumtempel der City – zu den wenigen Gewinnern im Poker ums Kundenportemonnaie. Hier streifen exklusiv betuchte Damen mit schwerem Goldschmuck durchs Sortiment. Hier geht es nicht ums Einkaufen, sondern ums „Shopping“. Was Verkäuferinnen brauchen, ist „Warenkompetenz“, die „Kundenbindung“ zählt.
Berauschend ist der Umsatz allerdings auch hier nicht. Auf einen Anstieg um „bis zu 23 Prozent“ im letzte Jahr verweist KaDeWe- Sprecherin Karin Tauer. Das allerdings geht in erster Linie auf die erheblich vergrößerte Verkaufsfläche zurück. Gut 30 Teilzeitkräfte gleichen hier die langen Samstage oder den Weihnachtsrummel aus. Abends, vor allem zu Wochenanfang, weiß Tauer, „wird die Nachfrage schwächer“. Dafür werde „hochwertiger eingekauft“. Daß die Angestellten trotz langer Öffnungszeiten vergleichsweise zufrieden sind, verdanken sie einem Schicht- und Freizeitplan, der fürs ganze Jahr geplant wird. Wer nicht zwölf Stunden am Verkaufsstand stehen will, kann früher gehen. Vorausgesetzt, er oder sie ist älter als 58 Jahre oder muß die Kinder von der Kita abholen. Bis zu fünf freie Tage ergeben sich für Ganztagskräfte, weil lange Schichten optimal eingeteilt werden können.
„Ich finde es super, wie das bei uns gelöst ist“, sagt etwa Heidrun Stielitz, die Fotoapparate verkauft. Wer sich für eine teure Rollei oder für eines der halbmeterlangen Teleobjektive interessiert, braucht nicht nur Geld, sondern vor allem Zeit. „Das kann man nicht in fünf Minuten machen“, sagt die ehemalige Profifotografin. Sie genießt es, abends in aller Ruhe entspannte Kunden zu beraten. „Vor allem diejenigen“, sagt sie, „die nach paar Tagen wiederkommen und dann auch mal was kaufen.“ Constanze v. Bullion
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