: Die Familie ist ein zähes Luder
Noch einmal: 68 und die antiautoritäre Erziehung war für die Entwicklung der Familie ein Segen. Ihre Zukunft liegt aber in ihrer Fähigkeit, sich zu öffnen ■ Von Barbara Sichtermann
Wußten Sie schon, daß 80 Prozent aller Kinder zwischen 0 und 14 Jahren bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen? Nicht wahr, diese Meldung paßt keineswegs zum Alarmismus vom Ende der Familie; man will sie auch gar nicht glauben, denn schließlich: Wird nicht jede dritte Ehe geschieden? Nimmt nicht die Anzahl der Scheidungswaisen in erschreckendem Ausmaß zu? Und der Alleinerziehenden erst recht? Und doch stimmt die beruhigende Meldung. Mit der Statistik ist es so eine Sache. Kinderlose Ehen werden häufiger geschieden als Ehen mit Kindern. Familien mit Babys und Schulkindern halten es eher miteinander aus als solche mit herangewachsenen Kindern: Eltern sind eben doch keine Unmenschen und warten mit der Scheidung, bis ihre Kinder das Jugendlichenalter erreicht haben und imstande sind, Trennungswünsche ihrer Erzeuger nachzuvollziehen. Und dann sind 20 Prozent Scheidungswaisen ja auch nicht wenig: Das ist immerhin ein Fünftel aller Kinder. Aber die große Mehrheit wächst so auf, wie der christdemokratische Familienpolitiker es sich wünscht: mit Vater und Mutter, mehr oder weniger behütet.
Die interessante Meldung ist nicht, daß die Familie tot sei. Die interessante Meldung ist, daß die Familie weiterexistiert und ihre wichtigste Aufgabe, ein materielles und soziales Nest für die nachwachsende Generation zu bieten, weiter erfüllt, obwohl sich elementare äußere Bedingungen, die auf diese Gesellungsform einwirken, dramatisch verändert haben. Die Kinderzahl, erstens, ist stark geschrumpft: Waren vor hundert Jahren noch vier Kinder pro Familie ein Durchschnittswert, sind es heute anderthalb, zur gleichen Zeit wandelte sich, nicht unabhängig von der Kinderzahl, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Es ist heute nicht mehr die beinharte Regel und auch nicht mehr die Norm, daß der Vater das Geld verdient und die Mutter die Familie versorgt, sondern daß Frauen nach ihrem eigenen Einkommen streben und ihren Arbeitsplatz einer zweiten Mutterschaft meist vorziehen. Die relativ sichere Empfängnisverhütung, die heute möglich ist, muß auch noch als Parameter aufgeführt werden: Seit es sie gibt, hat sich gezeigt, daß der moderne Mensch lieber weniger Kinder hat, dafür den beruflichen Erfolg genießt sowie die Prämien, die ein ordentliches Familieneinkommen abwirft: Auto, Haus, Konsum.
Dieser Trend ist in allen weltlichen und entwickelten Gesellschaften des Westens zu beobachten, wobei man sich über manche nette Pointe freuen kann: In Italien, Heimatland der Mamma mia und der gottgleichen Bambini, ist die Geburtenrate am stärksten abgestürzt, und in Deutschland, dem Mutterland des militantesten und dogmatischsten Feminismus, ist es bisher nicht gelungen, die Frauenerwerbsquote über kümmerliche 51 Prozent zu hieven sowie – da gibt es einen Zusammenhang – eine Vollversorgung mit Kindergartenplätzen sicherzustellen.
Aber Spaß beiseite, und zurück zum Trend: Die vergesellschafteten Bewohner der Wohlstandsinseln im späten 20. Jahrhundert wollen nicht mehr so viele Kinder wie ihre Vorväter am Ende des 19., basta. Und sie erfüllen sich diesen negativen Wunsch um so leichtherziger, als die Frauenbewegung und die „Zweite Moderne“ einen wichtigen Bewußtseinswandel ins Werk gesetzt haben: Heute braucht sich keine Frau mehr zu rechtfertigen, wenn sie kinderlos bleiben will; sie wird vielleicht von ihrem Großonkel mal beiseite genommen, aber die öffentliche Meinung traut sich nicht mehr, sie herunterzuputzen, soviel wurde immerhin erreicht. Dafür hat sich aber ein neuer Vorwurf gegen Nichteltern – also auch gegen Männer – herauskristallisiert, der sich gern an den konsumverachtenden Kulturpessimismus unserer Zeit anlagert: Menschen, die keinen Nachwuchs aufziehen, seien Egoisten... Es ist eigenartig, daß den Moralisten, die ihn erheben, nicht auffällt, wie brunzdumm er ist. In primitiven Gesellschaften war Kinderreichtum eine Spielart des materiellen Reichtums und hocherwünscht. Just die Egoisten unter den Patriarchen schwängerten ihre Frauen ununterbrochen. Heute ist altruistisches Verhalten am Familienstand und an der Kinderzahl nimmermehr ablesbar. Hatte Mutter Teresa Kinder? Ist das besserverdienende Ehepaar, das Steuern zahlt, von denen Kindertagesstätten gebaut werden, das für Greenpeace spendet und sein Souterrain-Apartment an einen farbigen Studenten vermietet, egoistisch, weil es keine Kinder hat – und auch keine haben möchte? All die einschlägigen Topoi aus dem Motivkranz des Kinderwunsches wie: ich möchte in jemandem weiterleben, ich möchte jemanden haben, der zu mir gehört, ich möchte, daß jemand meinen Namen trägt, passen viel besser zum Egoismus als der Verzicht auf Kinder, selbst wenn Nichteltern zugeben, daß sie die Belastungen fürchten. Das, womit sie anstelle von Kindererziehung ihre Zeit füllen, muß doch nicht in purer Selbstsucht aufgeben. – Schließlich: Daß heute die Mehrzahl der Kinder Wunschkinder sind, während noch vor zwei Generationen die Mehrzahl eher hingenommen wurde, trägt dazu bei, daß sich das Klima zwischen Eltern und Kindern verbessert.
Das eine oder andere Kind wird aber eben doch noch gewünscht und geboren, insgesamt eine ganze Menge, und wenn man die Kinder der ausländischen Mitbürger dazurechnet, stellt man fest, daß „wir“ so bald doch nicht aussterben. Familien werden gegründet, Babys werden gezeugt, kleine Rotznasen zum ersten Schulbesuch geleitet – wie eh und je. Nur daß sehr vieles besser geworden ist! Die Kleinen mit ihren Wünschen werden nicht mehr so souverän mißachtet wie noch vor 100 oder 50 Jahren, sie dürfen mitbestimmen, haben ihr eigenes Konto und gedeihen meist prächtig. Natürlich hat der Kulturpessimismus aus dieser erfreulichen Wendung gleich wieder eine Sorge herausdestilliert: Die Kinder würden überbetreut und damit verwöhnt und seelisch deformiert oder, je nach Perspektive, überfordert (Mitbestimmung), allein gelassen (Autoritätsverweigerung), abgegeben (Kita). Du lieber Himmel! Wer ernsthaft in dieser Diskussion bestehen will, muß sich anschauen, wie mit Kindern vor 100 oder 50 Jahren umgesprungen wurde, und dann mit den heutigen Zuständen vergleichen. Nicht nur, daß der Nachwuchs einst oft verhungerte oder in den Brunnen fiel – er wurde geschurigelt, eingesperrt, ausgebeutet, mißhandelt, und zwar mit Wissen und Billigung der zuständigen Autoritäten aus Kirche, Schulen und Familienhierarchien. Der Fortschritt in Richtung Menschlichkeit, der sich seit den schwarzen Zeiten der Pädagogik vollzogen hat, ist so überwältigend, daß man nur dankbar die Hände falten möchte und zugleich all den Idioten, die so tun, als ob überbesorgte Mütter und antiautoritäre Väter die Nation auf dem Gewissen hätten, am liebsten in den Hintern treten würde.
Die Mütter und ihre Neigung, die Brut überzubetreuen: Es gab und gibt wirklich in der alternativen Szene einen Kult ums Kinderkriegen, der auch wieder was Groteskes hat. Aber ich bitte zu bedenken: Es handelt sich um ein schmales Rinnsal von Tendenz, das auf Fraktionen der intellektuellen Mittelschicht beschränkt ist und hier wahrscheinlich keinem einzigen Kind geschadet hat.
Antiautoritäre Väter (und Mütter) haben wegen ihrer Bemühungen aus den 68er Jahren schon so viel Schmäh über sich ergehen lassen müssen, daß hier ein für allemal klargestellt werden soll: Die antiautoritäre Erziehung, die tatsächlich das Verhältnis zwischen den Generationen entspannt und dem Kinde sein Menschenrecht auf das Spielen im Matsch und mit den Geschlechtsorganen zugestanden hat, war eine unendlich segensreiche Idee, und es gebührt ihren Pionieren das Bundesverdienstkreuz. Als ich in die Schule ging, wurden zarte zehnjährige Kinder noch mit dem Lineal auf die Hände geschlagen – für nichts, fürs „Schwätzen“ – von einem alten, ehrwürdigen Lehrer, dessen Autorität und Recht darauf, Schüler zu schlagen, von niemandem angekratzt wurde. Damit Schluß zu machen – das war die Absicht der Antiautoritären. Zugleich wollten sie mehr für die Kinder erreichen, sie wollten die leidenschaftliche Anarchie, die in jedem Kind drinsteckt, über die Ordnung stellen und den Kurzen erlauben, sich nackt auszuziehen und von Kopf bis Fuß mit Fingerfarben oder Penatencreme oder Scheiße anzumalen (was bis auf die letzte Variante heute überall in Kitas Programm ist). Vielleicht haben sie dabei manchmal übertrieben, tant pis, daß es aber ihr Ziel gewesen wäre, Kinder „seelisch verwahrlosen“ zu lassen, wie es in der taz zu lesen stand, oder aber sich als Partner komplett zu verweigern, wie auch gerne unterstellt wird, ist ein solcher Unsinn, daß man davon ausgehen muß: Leute, die so was sagen, haben von 68 und der Geschichte der Kinderläden nicht die leisteste Ahnung und sollten gefälligst ihr Maul halten.
Die meisten Leute, die heute diese Streitigkeiten austragen, kennen und mögen den schönen Film „Der Club der toten Dichter“ von Peter Weir. Der Lehrer Keating, der darin die Hauptrolle spielt, ist ein Antiautoritärer, wie er im Buche steht. Ganz in diesem Geist atmet, was Erziehung betraf, 1968. Natürlich ist ein Risiko bei der Erziehung zum Selberdenken dabei – wie bei jedem Schritt in die Freiheit. Aber was immer vergessen wird: Das Risiko der Bevormundung und Repression ist nicht gering zu veranschlagen. Niemand, der heute auf den Antiautoritären rumkloppt, denkt an die Alternative: Was wäre, wenn wir sie und ihre Experimente mit dem Chaos nicht gehabt hätten?
Die Familie hat alle Experimente überlebt, ihre Stabilität ist erstaunlich und wahrscheinlich zukunftsträchtig. Ob das für sie spricht, will ich nicht entscheiden. Viele Kinder quälen sich ja mit ihren Eltern ab und hätten gerne das eine oder andere Ausweichquartier. Auch Eltern sind manchmal überfordert und wünschen sich zur elektronischen eine echte Großmutter. Aber die Großfamilie, von der in Frage steht, ob es sie je gab, ist nicht mehr wiederzubeleben. Dennoch liegt in der Öffnung wahrscheinlich die Zukunft der Familie, und gerade Familien mit Kindern machen es vor: Sie tauschen ihre Gören, schmeißen sie zusammen, fahren gemeinsam weg, probieren allerlei Gesellungsformen um die Kinder herum aus. Da längs könnte es weitergehen, und spannend würde es, wenn Nichteltern Lust bekämen mitzumischen. Der Ausgangspunkt und Kern aber bleibt die Familie: Vater, Mutter, Kind (oder auch nicht). Diese Minigruppe widersteht offenbar allen sozialen Anfechtungen und zieht auch heute noch 80 Prozent aller Kinder bis zum Ende der Pubertät groß. Eine solche Zähigkeit ist schon eindrucksvoll.
Die Autorin hat selbst drei Kinder, ein leibliches, zwei adoptierte, im Alter zwischen 9 und 19 Jahren
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