piwik no script img

Im Zuchthaus gab's eine Revolte

■ Drei in der DDR wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilte Gefangene, die immer noch oder schon wieder in Tegel einsitzen, erzählen, wie sie die Wende erlebt haben und was sie davon halten

Die Kunde vom Fall der Mauer hatte am 9. November 1989 im Zuchthaus Brandenburg wie ein Lauffeuer die Runde gemacht: „Freiheit, Freiheit! Wir sind ein Deutschland!“ jubelten sich die Gefangenen nachts aus den Fenstern zu. Aus Radiominisendern der Marke Eigenbau war die Botschaft in den Knast gesickert. Als am nächsten Tag der Befehl zum Raustreten kam, nahmen die Insassen die Offiziere nicht mehr für voll. Essenstreiks und Dachbesetzungen mit Forderungen nach Amnestie folgten. Die Produktion im Zuchthaus brach zusammen, und die Gefangenen wurden arbeitslos.

Das Herumsitzen leid, ließ sich der 1987 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilte Dreher Günter P. im Oktober 1990 in den Westen verlegen. Der 54jährige ist der einzige aus der ehemaligen DDR nach Tegel verlegte Gefangene, der seit der Wende und der deutschen Einheit noch keinen Tag draußen war. Von den Entwicklungen weiß er nur aus Zeitung und Fernsehen.

Ob er sich wohl noch zurechtfinden würde, fragt sich Günter P. immer wieder. Zumindest in Lichtenberg, wo er zuletzt wohnte, „hab' ick die Orientierung bestimmt nicht verloren“, glaubt er. Wahrscheinlich gebe es überall mehr „Glitzer und Glimmer“, aber auch mehr Elend und Verwahrlosung, vermutet er. „Ick habe keine Vorstellung davon, was aus den Menschen geworden ist. Aber man sieht es ja hier drinnen: Jeder ist sich selbst der Nächste.“

Als er in Tegel ankam, wähnte sich P. zuerst in einer „Irrenanstalt“. – „Det sind hier allet so abgeklemmte Typen, man fühlt sich richtig einsam, trotz Wohngruppenvollzug. Drüben war zwar allet strenger, aber zu zehnt uff Zelle konnte man wenigstens immer mit eenem quatschen, und es war todsicher wat los.“ In der DDR habe das Knastpersonal nur zwei Antworten gekannt: „Ja oder nee. Da wußte man wenigstens, woran man war. Hier wird in der Vollzugsplanung doch nur rumgeeiert.“

Wann Günter P. rauskommt, steht in den Sternen. „Ich bin ein ganz grober Fall.“ Er erzählt, daß er mit kurzen Unterbrechungen rund 30 Jahre seines Lebens wegen Taten vom Diebstahl bis zum Raub in Haft sitzt. Über den Mord, der ihm das „lebenslänglich“ eingebracht hat, will er nicht sprechen, „damit habe ich immer noch zu kämpfen“.

„Ich habe mehr Keile gekriegt als alles andere“, sagt der Mann mit den Arbeiterhänden und dem schütteren Haar. Er ist der Sohn eines Rohrlegers, der nach der Rückkehr aus dem Krieg ständig betrunken war und seine Frau und die zehn Kinder verprügelte. „Kinderheim, Jugendwerkhof, Knast und immer wieder Knast“, beschreibt P. seinen Lebensweg.

„Ich muß mich damit abfinden, daß ich vielleicht noch zehn Jahre eingesperrt bin. Dann wäre ich 64“, stellt P. nüchtern fest. „Für einen wie mich sieht es ganz schlecht aus.“ Er macht sich überhauptkeine Illusionen, nach seiner Entlassung Arbeit finden zu können. Sein einziger Kontakt nach draußen ist eine Vollzugshelferin des Schwarzen Kreuzes. An einem Besuchstag habe die Frau einmal ihre fünf Kinder mitbracht, „danach habe ich auf meiner Zelle geheult“, erzählt Günter P., immer noch sichtlich ergriffen. „Ich habe zum erstenmal eine richtige Familie kennengelernt.“

Wilfried D. hatte 20 Jahre im Zuchthaus Brandenburg zugebracht, als die Mauer fiel. Heute sitzt der 61jährige Rentner in Tegel, war in der Zwischenzeit aber wenigstens mal draußen. Nach seiner Begnadigung durch den brandenburgischen Justizminister stand der 1971 wegen Mordes zu „lebenslänglich“ Verurteilte am 28. Februar 1991 mit 1.000 Mark in der Tasche plötzlich auf der Straße. Die vielen Autos machten ihm solche Angst, daß er eine Passantin bat, ihm auf die andere Gehwegseite zu helfen. Im Zug nach Berlin war er so weiß im Gesicht, daß er gefragt wurde, ob ihm übel sei. Die ersten Tage lief D. nur durch Berlin. „Ich hab' den Mund nicht mehr zugekriegt, so viel hatte sich verändert.“

In den 60er Jahren war der in Friedrichshain aufgewachsene Sohn eines Reichsbahners auch nach dem Mauerbau in beiden Hälften der Stadt zu Hause gewesen, weil er ein „Grenzgänger“ war. Von seinem Vater wußte der gelernte Gastronom und Möbeltischler, wie man mit der S-Bahn, aus Richtung Gesundbrunnen kommend, am Nordbahnhof unbemerkt die Seiten wechseln konnte, während die Bahnpolizei den Zug kontrollierte. In West-Berlin hatte er eine Wohnung, war manchmal aber monatelang bei seiner Frau in Ost-Berlin. Sein Geld verdiente er sich durch Schwarzarbeit. „Das ging so lange gut, bis mich die Stasi 1971 am Grabe meiner Oma verhaftete und mir einen Mord anhängte, weil ich nicht kooperieren wollte.“ In Wirklichkeit habe es sich bei der Tat, die ihm das „lebenslänglich“ einbrachte, um eine Körperverletzung mit Todesfolge gehandelt, sagt Wilfried D.

Nach seiner Begnadigung nahm sich Wilfried D. im Hotel Berolina für 114 Mark die Nacht ein Zimmer. Der Tausender war schnell verbraucht, danach bezahlte er mit Schecks seiner im Heim lebenden Mutter. „Daß die nicht gedeckt waren, habe ich nicht gewußt“, sagt D. Es kam, wie es kommen mußte: Der Mann landete nach einem halben Jahr Freiheit wieder im Knast. Aufgrund eines Herzinfarkts und einer Bypass-Operation wurden ihm mehrere Haftunterbrechungen gewährt. 1994 mußte er seine neue Strafe wegen Scheckbetrugs dann aber doch antreten.

Die drei Jahre sind inzwischen rum, aber D. schmort weiter. Aufgrund des Scheckbetrugs wurde die Begnadigung widerrufen. „Morgens fange ich an, den Flur langzulaufen, und abends höre ich wieder auf“, beschreibt D. seinen Alltag. Abgesehen von der Justiz, die sämtliche Anträge auf Gnade abgelehnt habe, sei er mit der Wiedervereinigung aber sehr zufrieden, betont er. Draußen sei „alles ganz große Klasse“. Den vielen Arbeitslosen zum Trotz sei er ganz sicher, jederzeit eine Stelle zu finden. Schließlich habe er ausgezeichnete Referenzen als Gastronom. „Man kennt mich noch aus der frühen Vergangenheit“, sagt Wilfried D. und meint damit 1960 bis 1964.

Der Tischler Helmut H. hat vom 9. November 1989 überhaupt nichts mitbekommen. Der heute 61jährige saß damals im Stasi- Knast Hohenschönhausen ein: „Ich bin wie immer früh ins Bett gegangen und habe das richtig verschlafen“, bedauert H.

Der 1978 in Schwerin wegen Mordes zu „lebenslänglich“ verurteilt Helmut H. sitzt heute immer noch in der Haftanstalt Tegel ein. Weil er 1990 vom Hohenschönhausener Knast acht Tage Urlaub auf Ehrenwort bekam und 1994 eine Weile Ausgang aus Tegel hatte, ist er über die Veränderungen außerhalb der Mauern halbwegs im Bilde.

Der Urlaub auf Ehrenwort war ihm gewährt worden, weil er seine Wohnung in Wittenberge auflösen mußte. Die monatliche Miete von 37 Mark hatte der inhaftierte Junggeselle 12 Jahre lang gezahlt, der neue Eigentümer und dessen Preise zwangen ihn zur Aufgabe. Die von Waren überquellenden Läden hätten ihn überhaupt nicht beeindruckt, sagte H.: „Ich bin sehr bescheiden. Geschäfte sagen mir nicht viel. Wirklich mitgenommen hat mich, daß wir in einer Gaststätte für ein Mittagessen für drei Personen sechzig Mark bezahlt haben. Früher sind drei Leute für zehn Mark satt geworden, und die ollen Pommes frites sind ooch nicht mein Fall.“

Als er 1994 Ausgang aus der Haftanstalt Tegel hatte, ging H. ausschließlich seiner Passion nach und schaute sich Häuser von alten Baumeistern an. Schinkel und Schlüter gehören zu seinen Lieblingsarchitekten. „Das einzige Warenhaus, in dem ich mal drinnen war, ist das KaDeWe. Den Räucheraal und die Wachteln mußte ich mir mal ansehen.“ Eigentlich war der Ausgang als Vorstufe zur Verlegung in den offenen Volzug gedacht. Doch dann sei diese „unglückliche Geschichte mit dem Gift passiert“, erzählt H. Er habe einem Mitgefangenen erlaubt, in seiner Zelle Heroin abzuwiegen. Als die acht Gramm auf dem Tisch lagen, war Kontrolle. Helmut H. wurde zu einem zusätzlichen Jahr Haft verurteilt und verschwand ein Dreivierteljahr auf der Dealerstation, „obwohl hier drinnen jeder Beamte weiß, daß ich nichts mit Drogen zu tun habe“.

Während seiner Zeit in DDR- Haft hatte er dafür um so mehr Glück. Nach seiner Verurteilung bemalte er im Zuchthaus Brandenburg Orden mit Nitrofarbe, darunter die Kampfspange Äthiopien. Schon anderthalb Jahre später wurde er zum Handwerkerkommando in den Stasiknast nach Hohenschönhausen verbracht und baute dort zehn Jahre lang Möbel. Etwas Besseres hätte H. nicht passieren können, denn die Handwerker genossen größte Privilegien. Die 16 Männer hatten zwei Schlafräume, einen Clubraum mit Sesseln, Billardtisch, Fernseher und Plattenspieler, die Wände waren tapeziert, vor den Fenstern hingen Gardinen. „Es war richtig gemütlich.“ Eßraum und Küche verband eine Durchreiche, die Gefangenen konnten selbst kochen. „Es war wie im Schlaraffenland. Wir hatten zum Beispiel drei verschiedene Sorten Pfeffer, das gab es draußen in keinem Laden.“

Als am 4. Oktober 1990 die Verlegung in den Westteil der Stadt anstand, „wollte keiner mit“, erinnert sich Helmut H. Heute ist er der letzte der „Höhenschönhausener“, der noch in Tegel sitzt. Manche halten ihn für verrückt, weil er Sommer wie Winter in kurzen Hosen und Unterhemd herumläuft und sich nach der Rückkehr aus der Tischlerei meistens gleich einschließen läßt. H. lacht darüber nur. „Ich war früher Eisbader in der Ostsee, mir ist nicht kalt. Ich brauche die Masse nicht“, sagt er. Seine Abende verbringt er damit, Artikel über Architektur aus Zeitungen zu reißen. „Wenn ich mit dem Kopf wackele, werde ich die Berge von Schnipseln vielleicht mal archivieren.“ Plutonia Plarre

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen