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Eine Chronik der Hausbesetzerszene

Knapper Wohnraum und hohe Mieten waren die wichtigsten Gründe für junge Leute Anfang der achtziger Jahre, leerstehende Wohnungen und Häuser zu besetzen – wie in der Hamburger Hafenstraße: Dort zogen im Herbst 1981 Punks und Autonome nach und nach in die heruntergekommenen Häuser im elbnahen Stadtteil St. Pauli. Die Eigentümer, die städtische Wohnungsbaugesellschaft Saga, ignorierte die jugendlichen Aussteiger monatelang und informierte die Baubehörde erst, als Transparente mit der Aufschrift „Diese Häuser sind besetzt“ von den Dächern hingen. Auch in Berlin-Kreuzberg und anderswo zogen junge Leute in leere Wohnungen, um ihren Traum von der gemeinschaftlichen Kommune zu verwirklichen.

In der Hamburger Hafenstraße erhielten die neuen Bewohner nach langwierigen Verhandlungen mit dem SPD-Senat im November 1983 Mietverträge für 27 Wohnungen. Lange Zeit machte das alternative Wohnprojekt keine Schlagzeilen. Erst als sich der Staatsschutz für die Hafenstraße interessierte, eskalierte die Situation: Hamburgs inzwischen verstorbener Verfassungsschutzchef Christian Lochte behauptete 1984 erstmals, in den Hafenstraßenhäusern lebten Symphathisanten der Rote Armee Fraktion (RAF). Beweise legte seine Behörde nicht vor – was die CDU und die örtliche Springerpresse nicht daran hinderte, fortan vor einer „Keimzelle der Gewalt“ in der Hafenstraße zu warnen.

Im Oktober 1986 räumten vier Hundertschaften der Polizei sechs Wohnungen, nachdem sich die Besetzer mit Stacheldraht verbarrikadiert hatten – mehr als 10.000 Unterstützer demonstrierten anschließend für den Erhalt des Wohnprojekts. Eine Vermittlergruppe um den Millionär und Mäzen Jan Philipp Reemtsma bot an, die Häuser zu kaufen, was jedoch an den Bedingungen des Senats scheiterte.

Während sich die Stadt Hamburg mit den Bewohnern der Hafenstraße Stück für Stück arrangierte und 1995 die Häuser an eine eigens gegründete Genossenschaft verkaufte, entwickelte sich Anfang der neunziger Jahre die Mainzer Straße im Berliner Bezirk Friedrichshain zum Zentrum der Hausbesetzerbewegung. Vor allem obdachlose Jugendliche störte, daß dort und anderswo viele (Ost-)Berliner Wohnungen leerstanden, weil die früheren Bewohner ausgezogen waren oder Eigentumsrechte nicht geklärt werden konnten.

Auch in Leipzig-Connewitz und in Dresden wurden Wohnungen besetzt. „Uns geht es nicht darum, jemandem sein Eigentum wegzunehmen“, betonte damals ein Besetzer in Berlin. Man wolle nur friedlich in einer Kommune leben. Neben Polizei und Justiz verhinderte dies vielfach die rechte Gewaltszene: In Dresden räumten etwa Skinheads im Sommer 1991 ein von Autonomen besetztes Haus und beschimpften die Bewohner als „asoziale Zecken“.

In Berlins Mainzer Straße war der Traum von der Kommune nach wenigen Wochen fast beendet: Die Polizei räumte nach dreitägigen Straßenkämpfen dreizehn besetzte Häuser, was zum Bruch des damaligen rot- grünen Senats führte. Heute ist Friedrichshain aus Sicht der Berliner Behörden ein Vorzeigeprojekt: In kürzester Zeit wurden entlang der Frankfurter Allee riesige Einkaufszentren und Büros aus dem Boden gestampft. An der Tristesse im dahinterliegenden Altbauviertel änderte sich jedoch nicht viel – hier steht ein Großteil der noch immer besetzten Häuser. Ulf Laessing

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