: Ärmel hoch und ab ins Rathaus
Kerstin Michelchen (CDU) wollte die Love Parade nach Lieberose holen. Dort ist sie Bürgermeisterin. Von Geldnot, Jammerstimmung und viel Arbeit läßt sie sich nicht abschrecken ■ Von Vera Gaserow
„Aus Berlin?“ fragt die resolute Frauenstimme, „na, denn man los“. Also Autobahn Frankfurt(Oder), Abfahrt Storkow, immer geradeaus, „und auf dem Marktplatz fragen Sie nach mir“. Der Marktplatz ist der vom brandenburgischen Lieberose und die Frage, dort gestellt, eine wirklich gute: „Entschuldigung, wo, bitte schön, kann ich Frau Michelchen finden?“ Haha, grummelt der Blumenhändler am Marktstand, das würde er auch gern wissen. Frau Michelchen ist seine Frau. Man könnte jetzt an fünf Orten gleichzeitig suchen – unten in der Gärtnerei, oben im Blumengeschäft, drüben im Rathaus, gegenüber im Schloß... „übrigens, wenn Sie schell zu Fuß sind, dann rennen Sie der Frau hinterher, die gerade vorbeigedüst ist. Das war sie.“
Rums, schon ist sie im Blumenladen Ulbrich verschwunden. Jacke aus. Steppweste an. Keine Zeit. Kundschaft: „Was zum Geburtstag brauchste, Karin? Schon wieder? Hier nimm das Gesteck, sieht aus, als hättste 20 Mark ausgegeben.“ Klarsichtfolie, Glitzerband in die Ecken. Jetzt ist Luft, „schaufeln Sie sich den Schemel frei“, jetzt können wir reden. Über ihre Arbeit und über sie. Kerstin Michelchen, Eigencharakterisierung: „Lieberoserin mit Leib und Seele, 37 Jahre alt, Zwillingstöchter, ein Sohn, zwei Hunde, drei Katzen, zwei Meerschweinchen, 80 Goldfische, ein Ehemann, selber ein Familientier“.
Eines hat sie in der Aufzählung vergessen: Angehörige einer vom Aussterben bedrohten Gattung. Kerstin Michelchen ist Kommunalpolitikerin in Brandenburg. Seit vier Jahren ist sie Bürgermeisterin eines „Provinznestes“, und das will sieben Jahre nach der Einheit kaum noch jemand sein. Kerstin Michelchen will es auch bleiben. „Politik“, Moment! Sie muß noch schnell das Alpenveilchen einwickeln, „macht siebenfünfzig“. Politik ist doch eine hochspannende Sache. Mit den Leuten etwas auf die Beine stellen, mal jemandem ordentlich die Meinung sagen – „für mich ist das mein kleines zweites Leben.“
„Frustrierend ist das, einfach frustrierend“, stöhnt Karl-Ludwig Böttcher, Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds Brandenburg. Ein Großteil der Kommunalpolitiker in Brandenburg hat nach sieben Jahren Crashkurs in Sachen Demokratie die Nase voll, „man muß die ungeheuer stimulieren, daß die weitermachen“. Leuten wie der Michelchen, „'ne engagierte Frau“, müßte man da dankbar sein. Im Landkreis Dahme-Spreewald, dem Lieberose angehört, sind seit den letzten Kommunalwahlen 1993 von 145 Bürgermeistern 17 zurückgetreten, ein weiterer wurde abgewählt. In anderen Kreisen Brandenburgs wie etwa Potsdam- Mittelmark sieht es mit 18 zurückgetretenen Dorfchefs nicht besser aus. Nach den Kommunalwahlen im September 1998 wird die politische Landschaft gar weiße Flecken haben, denn alle Parteien haben Schwierigkeiten, genügend Kandidaten für die Listen zu finden. Vor allem auf dem Land reißt sich keiner mehr um die Posten. „Angesichts der Haushaltslage“, wettert Böttcher, „haben die Kommunen keinen Spielraum mehr. Die können sich 1998 'nen Laternenmast leisten, und später vielleicht die Glühbirne dazu.“ Rund 180 brandenburgische Gemeinden mußten bereits eine Art Offenbarungseid leisten. Um ihre Zahlungsunfähigkeit abzuwenden, haben sie einen Antrag beim Haushaltssicherungsfonds des Landes gestellt. Der Notruf ist mit strengen Auflagen verbunden: Verkauf des Tafelsilbers der Gemeinde, Erhöhung der Abgaben und Gebühren weit über den durchschnittlichen Satz.
Dafür fangen Kommunalpolitiker die Watschen ein. Die einen haben sich von windigen Investoren über den Tisch ziehen lassen, haben sich mit utopischen Steuerschätzungen verkalkuliert. Die anderen sind schuld, daß die Suppe nun ausgelöffelt werden muß. Wer sitzt sich da im Gemeinderat noch den Hintern platt? Wer will da ehrenamtlicher Bürgermeister sein? Beim Schützenverein und der Feuerwehr Rede und Antwort stehen, beim Gottesdienst und an der Imbißbude sich die Beschwerden anhören?
„Klar“, sagt Kerstin Michelchen, „wir sind sind die Hampelmänner der Nation. Manchmal verliert man den Mut, aber dann sag ich mir: Weiter!“ Ob sie weitermachen soll, werden die Lieberoser im nächsten September entscheiden. Manch einer wünscht sich eine andere Person – eine, eher wohl eineN, der gekonnter repräsentieren kann, dem man nicht anmerkt, daß zu Hause die Bügelwäsche wartet und im Geschäft die Kranzbinderei für die nächste Beerdigung.
Nur daß sie bisher etwas „verbaselt“ hätte, die Bürgermeisterin, nein, das wollen „bei allen Reibungspunkten“ auch die skeptischen Mitstreiter im Stadtrat nicht sagen, „wenn sie was anpackt, dann macht sie's auch gut. Aber viel machen kann sie nicht.“
Zwischendrin mal 'ne Stulle oder 'ne Tasse Kaffee – wär' gut, aber keine Zeit. „Suppengrün ist leider alle, Frau Sommer, darf's was anderes sein?“ Jetzt ist auch noch der Pinsel verschwunden, und das Plakat muß fertig werden: „75 Jahre Lieberoser Kleintierzuchtverein“. Natürlich ist sie da Mitglied. Das ist ja das, was Kerstin Michelchen liebt an ihrem 1.500-Einwohner-„Kaff“, das sich Stadt nennen darf, „hier hat man noch ein Herz füreinander. Das ist einfach ein liebenswertes Nest“.
Einmal, im Sommer, hat Kerstin Michelchen es sogar geschafft, ihr liebenswertes Nest in die große, weite Welt zu tragen. Die Love Parade, hat sie da vorgeschlagen, könne auch in Lieberose stattfinden, wenn die spießigen Berliner sie nicht wollen. „Na, das war ein Auftrieb!“ Die Love Parade hat dann doch in Berlin stattgefunden. Kerstin Michelchen ist mit ihren Töchtern hingefahren, aus Neugierde und weil man mit der jungen Generation gehen muß, „aber nie wieder!“
Lieberose gefällt ihr da zehnmal besser als die Hauptstadt. Hier ist sie geboren, hier hat sie Floristin gelernt und ist schon zu DDR-Zeiten mit ihrem Mann in den elterlichen Gärtnereibetrieb eingestiegen. Ja doch, da ist sie, auf eine Art, treudeutsch und stur konservativ. Bodenständig eben, das paßt zu ihrer robusten Statur, ihren zupackenden Bewegungen, ihrem forschen Mundwerk. „Wir Lieberoser sind nun mal ein treuer Menschenschlag, wenn wir uns zu einer Sache entschlossen haben, bleiben wir dabei.“
Treue hat für Kerstin Michelchen nichts Altmodisches. Vor sechzehn Jahren hat sie „den richtigen Mann gefunden und der vielleicht sogar die richtige Frau“. Und als ihr Heimatstaat, die DDR, sich verabschiedete, trauerte sie ihm zwar nicht nach, „aber daß es unbedingt schlecht war, kann man auch nicht sagen. Man hatte Zeit füreinander und für die Natur.“ Auch ihrer Partei, der CDU, hält sie „bei allen Widrigkeiten“ die Treue. Mit achtzehn ist sie „quasi hineingewachsen“ in die Partei ihrer Eltern. DDR-CDU und christliche Prägung, als einzige in der Klasse zur Konfirmation gehen, im Staatsbürgerkundeunterricht die schlechtesten Noten kriegen, aber „die Schnauze immer vorneweg haben“. Nur manchmal, wenn sie „dieses ganze Gesülze unserer Politiker“ hört, fragt sie sich schon, ob sie noch im richtigen „Verein“ ist. Senkung des Solidaritätszuschlags, Verarmung des Ostens, ABM-Abbau – „ja, einiges ist da bei der Wiedervereinigung ziemlich schiefgegangen“. Aber deshalb dem Kanzler die Treue aufkündigen? „Er hat 1990 das einzig Mögliche getan. Jetzt auf den dicken Kanzler schimpfen, das mach' ich nicht mit!“
Wer welcher Partei angehört, spielt in der Lieberoser Politik ohnehin eine untergeordnete Rolle. Hier werden Personen gewählt, und 480 von 700 Stimmberechtigten wählten eben „die Kerstin“. Die hatte 1993 ein kleines Wunder vollbracht: Als ruchbar wurde, Lieberoses Schule würde geschlossen, da ist sie – „Mädels, was soll der Quatsch“ – erst ins Rathaus und dann ins Bildungsministerium gestürmt. Aus Protest blieben die Lieberoser Schüler drei Tage zu Hause. Der erste Schulstreik in der Brandenburger Landesgeschichte. Die Schule blieb, und „die Kerstin“ wurde Bürgermeisterin.
17.30 Uhr, kurz vor Ladenschluß, zwischen Winterastern, Sellerie und Alpenveilchen noch die Vorlagen lesen für die abendliche Stadtverordnetensitzung, daneben die letzten Vorbereitungen für die Kirmes treffen. Wenigstens feiern sollen die Leute. „Die Lieberoser sollen wieder Spaß kriegen an ihrem Ort und nicht nur jammern: Das und das ist kaputt, und dafür fehlt das Geld“. Kein Brot, aber Spiele? Nun, einiges immerhin habe sie ja erreicht: Lieberose wird eine Feuerwehr kriegen und ein kleines Einkaufszentrum, und trotz ABM-Abbau hat Michelchen Wege gefunden, die öffentlichen Flächen vor Verwahrlosung zu bewahren. „Natürlich müßte noch viel mehr geschehen. Anfangs hat man uns die Fördergelder in den Rachen geschmissen, und jetzt wir sind zur Untätigkeit verdammt.“
18.30 Uhr. Kerstin Michelchen ist jetzt zwölf Stunden auf Trab. Die Stadtverordnetenversammlung trifft sich zu ihrer 46. Sitzung. Der Tagungsort: Schloß Lieberose, drei verfallene Gebäudeflügel, drei zuviel für die Finanzen der Stadt. Im Sitzungszimmer warnt ein Schild: „Betreten Verboten. Einsturzgefahr“. Das paßt zum Punkt sechs der heutigen Tagesordnung. Die Hände um ihre Papiere geklammert, überbringt die Stadtkämmerin die Botschaft: „Unser Haushalt ist wie zusammengekracht. Wir sind zahlungsunfähig“. 500.000 Mark aus einem geplanten Immobilienverkauf der Gemeinde zur Luftblase geworden, das Einkommenssteueraufkommen um 100.000 Mark zu niedrig und auf dem Tisch die Nachforderung des Abwasserzweckverbands: 600.000 Mark – „das ruiniert uns“.
Die geplante Straßenbeleuchtung – verschoben, die Malerarbeiten an der Friedhofshalle – gestrichen, die Fördermittel für die Stadtsanierung – retour geschickt, weil kein Pfennig im Stadtsäckel ist für die Eigenbeteiligung. Ratlosigkeit. Kerstin Michelchen, die geeichte „Ärmel-Aufkremplerin“, wirkt erschöpft. Am liebsten möchte sie „schreien“.
Drei Tage später ist sie wieder obenauf. Die Kirmes „war Spitze“, und was den desolaten Haushalt der Stadt angeht, „da müssen wir eben improvisieren, das haben wir zu DDR-Zeiten gelernt. Müssen wir eben all die Fähigkeiten wieder vorkramen, von denen wir dachten, daß wir sie nicht mehr brauchen – notfalls wieder mit Naturalien handeln, ich helf dir, du mir.“ Klar, Lieberose braucht Geld, und zwar dringend, „aber sich wieder auf die eigenen Beine stellen, das kann uns kleinen Kommunen auch guttun.“
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