"Wir müssen draußen bleiben"

■ Auf der Kandidatenliste für die Bundestagswahl 98 hat die SPD keinen Platz für die Jugend frei. Juso-Chef Matthias Linnekugel hielt auf dem Parteitag die beste Rede, scheiterte dennoch

„Trau einem Sozi unter 30“. Mit dem Spruch auf ihren T-Shirts warben rund 25 Jusos auf dem Nominierungsparteitag der SPD für Juso-Chef Matthias Linnekugel. Der 28jährige Rechtsanwalt forderte Parteichef Detlef Dzembritzki heraus, der für den Listenplatz 3 kandidierte. Als Quittung dafür, daß der Landesvorsitzende sich nicht für eine Verjüngung der SPD-Bundestagsfraktion eingesetzt hat. Dies hatte fast genau vor einem Jahr der Kölner Bundesparteitag beschlossen.

Das Durchschnittsalter am Ende der Legislaturperiode wird bei 61 Jahren liegen, wenn keiner der beiden Kandidaten unter 40 gewählt würde, rechneten die Jusos vor. Auf eine Stellwand hatten sie Statistiken gepinnt, die jedem Parteichef zu denken geben müßten: Seit Jahren verliert die SPD bei Bundestagswahlen kontinuierlich JungwählerInnen. Der Anteil der WählerInnen unter 25 Jahren sank nach dem Hoch von 60 Prozent im Jahr 1976 stetig: 1980 waren es noch 49 Prozent, bei der letzten Bundestagswahl 1994 nur noch 33 Prozent. Auch bei den SPD Mitgliedern hat der Anteil der unter 35jährigen in den letzten Jahren von 31 Prozent (1974) auf 13 Prozent (1996) abgenommen. Im Bundestag ist die SPD das Schlußlicht: nur 1,98 Prozent ihrer Parlamentarier sind unter 36 Jahren. Selbst die CDU kommt auf 5,1 Prozent.

Doch die Berliner Parteispitze reagierte auf diese alamierenden Zahlen nicht. Von Nachwuchsförderung keine Spur. „Wir müssen jetzt junge Leute nach Bonn schicken, damit die Partei nach außen nicht aussieht wie ein Rentnerverein“, sagte Dietlind Biesterfeld aus Friedrichshain. Die 29jährige war aufgebracht, daß Fraktionsvorstand Hermann Borghorst für den „gestandenen Kommunalpolitiker“ Dzembritzki geworben hatte. „Wenn ihr uns mangelnde Erfahrung vorwerft, ist das ein Schlag ins Gesicht jedes jungen Menschens. Wir werden kontinuierlich von allem ferngehalten, sei es auf dem Arbeitsmarkt oder in der Politik“, brachte sie das Lebensgefühl einer Generation auf den Punkt, die sich vor verschlossenen Türen wähnt.

Doch gelang es den Jusos immerhin, die fehlende Beteiligung des Parteinachwuchses zum dominierenden Thema der Versammlung zu machen. Nahezu alle KandidatInnen fühlten sich bemüßigt, ihr Alter zu kommentieren. Geschickt konterte die 61jährige Ingrid Holzhüter: „Alt ist man erst, wenn man seine Ideale aufgibt.“ Fürsprecher des 54jährigen Parteivorsitzenden Dzembritzki hoben seinen „hohen Sachverstand“ in der Jugend- und Bildungspolitik hervor.

Bei 320 Delegierten könne Linnekugel mit einem Drittel der Stimmen rechnen, schätzten die Jusos vor der Abstimmung die Chancen ihres Landesvorsitzenden. Dann hielt der 28jährige eine glänzende Rede. Der Saal war aufmerksamer als bei der pflichtgemäßen Ansprache des Spitzenkandidaten Wolfgang Thierse. Linnekugel plädierte für eine andere Jugend- und Sozialpolitik. Die Rentenreform dürfe nicht unter Ausschluß der Jugend geführt werden, die am stärksten davon betroffen sei.

Dem starken Beifall folgte ein Abstimmungsergebnis, das sehr viel knapper ausfiel als erwartet. Von 303 abgegebenen Stimmen erzielte Dzembritzki mit 163 nur knapp die absolute Mehrheit. Linnekugel erhielt 132 Stimmen.

Die Jusos waren auch auf die Niederlage gut vorbereitet: als das Abstimmungsergebnis verkündet wurde, wechselte ihre Phalanx auf der Tribüne die T-Shirts: „Wir müssen draußen bleiben“. Allerdings offenbarte die Kandidatenkür auch die dünne Personaldecke der Jusos. Außer Linnekugel hatten sie niemand aufzubieten. Die 38jährige Kerstin Raschke, die sich auf Listenplatz 7 gegen die Bundestagsabgeordnete Renate Rennebach durchsetzen konnte, fuhr nicht auf Juso-Ticket. Mit ihr ist wenigstens eine Kandidatin unter 40 auf einem aussichtsreichen Platz nominiert. Dorothee Winden