■ Gedanken über Liebe, Gebürtigkeit und Sterblichkeit anläßlich der Installationen des verstorbenen US-amerikanischen Künstlers Paul Thek Von Marie Luise Knott: Liebe, nichts als Liebe
Der Installationskünstler Paul Thek, dem Susan Sontag ihr Werk „Kunst und Antikunst“ widmete, ist derzeit nahezu vergessen. Wie kein anderer moderner Künstler stellte Thek das Licht – den Ursprung des Weihnachtfestes – ins Zentrum seines Werkes: dem ewigen Dunkel entgegen. So schuf er sich seine Welt aus Mythen und Müll. Und mittendrin: die Liebe.
„Weihnachten ist eine Zeit, in der – ich denke mal, aus vielen Gründen, organischen, philosophischen Gründen, von denen keiner wirklich wichtig ist – alle Menschen in der Welt und offensichtlich alle Kulturen aller Zeiten beschlossen haben, zumindest so zu tun, als brächten sie das Licht zurück und erneuerten ihren Geist. Das ist ein kollektives Unterfangen.
Es ist egal, wann sie beschließen, es zu tun. Wichtig ist, daß sie beschließen, es zu tun. Ich denke, wenn ich überhaupt zu irgend etwas nütze bin, muß ich schon das tun, wovon die Leute wissen, wie sie es tun müssen. Ich kann ihnen keine komplette neue Kultur erzählen.“
Paul Thek, der Künstler, von dem diese Worte stammen, hat in seiner Beschreibung von Weihnachten das Licht ins Zentrum gerückt. Es besitzt an Weihnachten jenseits seiner rein praktischen Aufgabe (der nämlich, im Dunkel der kürzesten Tage den Weg zu leuchten), eine symbolische Funktion: Es steht für die Erneuerung, für die Hoffnung, die jeder Erneuerung innewohnt, auf daß das Dasein, das trostlos zu werden droht, eine Unterbrechung, eine ungeahnte Richtung erfahre.
Ob im Wald für Hänsel und Gretel, denen plötzlich das Licht des Hexenhäuschens erscheint, oder für die Heiligen Drei Könige, die, aus dem Morgenland kommend, dem neuen Stern entgegenziehen – das Licht ist die Hoffnung.
Doch das Licht, in Gestalt der Kerzen, steht noch für etwas anderes: für die Liebe. Die Kerzen, aus Wachs gezogen, werden entzündet, weisen den Weg und geben sich hin. Von diesen zwei großen Dingen, die miteinander inzestuös verbandelt sind – der Hoffnung und der Liebe –, träumen wir gemeinhin mehr, als daß wir sie lebten. Einmal im Jahr ballen wir diesen Traum in einen Tag: den Tag der Geburt Christi.
Die Vereinigung von Liebe und Hoffnung geht zwar im ausgehenden 20. Jahrhundert auch an Weihnachten nie wirklich gut, aber es hält immer ein bißchen vor. Mal kürzer, mal länger. Daß es nicht so richtig gut geht, liegt vielleicht nicht zuletzt daran, daß uns etwas abhanden gekommen ist, was früher dazugehörte: der Glaube.
Denn eigentlich, im Korintherbrief, war es ja eine Triade: „Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Doch das größte unter ihnen ist die Liebe.“
Von der Liebe handelt das Werk Paul Theks scheinbar überhaupt nicht. Nirgends. Zumindest nicht äußerlich. Keine Kopulierenden, keine sich küssenden Menschen, keine schönen Körper. Dafür handelt sein Werk vielfach vom Licht, von der Kerze genauer gesagt. Wenn das nicht das Symbol der Liebe ist: sich hingeben, um dem anderen den Weg zu leuchten. Also vielleicht doch: Liebe, nichts als Liebe.
Paul Thek, der 1933 in New York geboren wurde, begann sein künstlerisches Schaffen mit Körperteilen und Fleischmassen. Sie „passierten ihm“, wie er es nannte. Alle seine Körperteile sind in Vitrinen plaziert, kaltgestellt. Sie wirken wie in Eis erstarrt. Mal ist das Eis blau, mal gelb, mal farblos. Es ist auch weniger Eis als vielmehr Plexiglas.
Für den Künstler mag es eine ironische Anlehnung an irgendeine Kunstmode gewesen sein, aber für die Körperteile muß es gewesen sein, als seien sie auf Eis gelegt, eingefroren. Vielleicht, um nicht sterben zu müssen.
Dabei sind sie längst tot, freigelegte Körperteile. Manchmal völlig unförmige gepreßte Fleischmassen, manchmal in ihrer imaginären Herkunft (als Arm, Schenkel) noch erkennbar. Paul Thek hat sie aus Wachs gefertigt. Aus Wachs, wie die Kerzen.
Man erkennt Adern und Fettstreifen. Manche der Fleischteile sind zugerichtet, zusammengenagelt, geschient usw. Wie Reliquien, wie sterbliche Überreste, die (in Vitrinen dargeboten) vom ersehnten Fortleben der Märtyrer künden.
Es muß ein grausames Leiden an der Sterblichkeit gewesen sein, das Paul Thek zu diesen Schreinen inspirierte. Der Kunstkritiker Giorgio Vasari schrieb einmal über Michelangelo: „Er hatte keinen Gedanken, der nicht von der Idee des Todes berührt war.“ Das wird auch auf Paul Thek zugetroffen haben. Er litt an der Sterblichkeit, „der Tatsache, daß wir Dinge sind“, wie er es später formuliert.
Es gibt eine Installation, in der er wächserne Kerzen und wächserne Fleischmasse zusammengebracht hat: Sie heißt „Geburtstagskuchen“, und das Schreckliche, das wir darauf sehen, ist ein pyramidenförmiger Schrein aus Glas und Metallrahmen. Innen befinden sich Fleischschichten, zurechtgeschnitten und stufenweise übereinandergelegt, wobei sich die Stufen nach oben verjüngen.
Ein Schichtfleischkuchen. Auf den Stufen stehen Kerzen, Geburtstagskerzen. Die Kerzen können sich nicht hingeben, sie sind nicht angezündet, sie stehen starr. Der Geburtstag hat nicht stattgefunden.
Nicht gelebtes Leben und nicht geliebte Liebe, möchte man sagen. Eine Installation auf die Nichtigkeit im Angesicht der Sterblichkeit, wenn man es dramatisch ausdrücken will. Oder eben: ein unerlöster Weihnachtsfleischbaum. Das war 1967.
Die Fleischinstallationen, die als aggressive Antwort auf den Kunstbetrieb gedacht waren, erregten wenig Ärgernis. Das Skandalon war erst seine Installation „Das Grab“ zwei Jahre später, in welcher er den Tod aus dem Plexiglasschrein befreite: Es handelt sich um die Skulptur eines langhaarigen Toten, der in einer gewöhnlichen Straßenecke liegt, gerade auf dem Rücken, eigentlich sehr aufgebahrt, jedenfalls würdevoll.
Dieser Tote im Eck sieht aus, als sei er auf der Straße gestorben, eben gerade, vor unser aller Augen. Er hat zwei Kopfkissen unter dem Haupt und ist auch sonst mit häuslichen Gegenständen umgeben: mit Eierbechern, Schüsseln, Kissen, Zetteln usw., die sich ein wenig wie eine Mauer vor ihm drapiert haben, als wollten sie den Toten vor dem Betrachter (also vor Paul Thek und uns) schützen.
Dann reist Paul Thek nach Europa. Die Fleischmassen verschwinden, er seziert nicht mehr am eigenen Leibe, zerfleischt sich nicht mehr wortbildlich. Er malt Wasser, erst sich selber, wie er auf dem Wasser liegt und doch fast ertrinkt, dann malt er Fliegenpilze, die auf den Wellen tanzen. Das Wasser, das im Johannes-Evangelium beinahe über den Jüngern zusammenschlägt, auf dem Jesus, der Bote des Glaubens, jedoch gehen kann.
Es ist, als habe die Begegnung mit fremden Kulturen und der Art und Weise, wie – anders – diese Kulturen das Wissen um die Sterblichkeit ausagieren, Paul Thek sein In-der-Welt-Sein annehmbar gemacht: „Ich hoffe, meinem Werk wohnt die Unschuld der barocken Krypten inne, die ich in Sizilien besucht habe“, sagt er später.
„Daß man Leichname wie Blumen zur Schmückung eines Raumes verwenden konnte, faszinierte mich. Intellektuell akzeptieren wir die Tatsache, daß auch wir Gegenstände sind, dies aber auch gefühlsmäßig anzuerkennen, kann einem ein wahres Glücksgefühl geben.“
Es beginnt eine neue Zeit, mit neuartigen Installationen: Meer-Landschaften in Museen: Boote mit Hirschen, Brummkreisel auf zeitungsbesegelten Flößen, die auf Sandmeeren („Wasser, auf dem man laufen kann“) dahintreiben. Und mitten auf diesen immer wiederkehrenden Sandmeeren: die Kerzen. Das Wasser (der Glaube?) trägt sie. Sie schaukeln, weisen den Weg und schmilzen dahin.
Die Kerzen, die noch auf dem Geburtstagskuchen (der auch ein Weihnachtsbaum war), starr standen und von keiner möglichen Liebe kündeten, sind entzündet worden. Der Geburtstag hat stattgefunden, die Gebürtigkeit, die ja die Voraussetzung für die Sterblichkeit und das In- der-Welt-sein-Können ist, ist akzeptierbar geworden. Es ist, als hätte die Kerze (das Leben) in der Liebe ihre Bestimmung gefunden.
Das Licht ist das zentrale Element in all diesen Installationen der siebziger Jahre, die ansonsten sehr verschieden sind. Sie setzen sich zusammen aus Mythen und Müll. Aus Kähnen etwa, auf welche Büsche drapiert sind, mit Schafen dazwischen; Kähne, die auf dem Wege sind in das lichtbestückte Sandmeer.
Zwischendrin Zwerge, die in Särgen liegen, sich später, in anderen Werken, daraus erheben werden – works in progress. Als Ausstellungsinstallationen sind sie zeit- und ortsgebunden. Vergängliche Erscheinungen, von denen nichts bleibt als ein paar Einzelteile, die in Lagerkellern vermodern.
Entscheidend an all diesen Installationen ist die Inszenierung des Raums als eines Weges, einer Sehnsucht, welche der Zuschauer mit seinen Augen durchmißt und durchlebt. Thek war fasziniert von den italienischen Dorfprozessionen. Vielleicht, weil die Menschen dort über einen Ritus verfügen, der es ihnen ermöglicht, der Sterblichkeit ins Auge zu sehen.
Die Menschen zeigen den Leichnam (die Hostie), durchmessen den eigenen Raum (die Stadt) und ritualisieren die Begegnung mit dem Tod. Dabei tragen sie neben dem Leichnam das Licht durch die Stadt. Ich weiß nicht, ob es dies war, was Paul Thek an den Prozessionen faszinierte. Man weiß es nie bei der Kunst, aber man sieht etwas, und dann beginnt der Dialog – ein Verständnis, ein mögliches Mißverständnis.
Paul Thek ist für mich der Künstler des Advents, der Weihnacht. Der Lichter wegen, der Erwartung wegen. Da erscheint es wieder vor unseren Augen, das Weihnachten der Kindheit, das sich in Brummkreiseln, Bauklötzewagen und Kerzenschein im Werke Paul Theks sofort in Erinnerung ruft.
Das Weihnachten meiner Kindheit ist jedoch zuallererst ein Fest des Friedens gewesen. In Köln, wo ich aufwuchs, geißelte „unser Pfarrer“ 1971 von der Kanzel die Heuchelei der Welt, die Weihnachten einen Tag lang die Bomben auf Hanoi aussetzte, ohne wirklich Frieden zu wollen.
Auch in Heinrich Bölls Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ in der am Ende jeder Tag ein Weihnachtstag sein muß, singt der Engel der wahnhaften alten Dame „Friede“. Nach den Weltkriegen war den Menschen vielleicht nichts wichtiger als der Friede und Heinrich Böll bekanntlich nichts suspekter als der bundesrepublikanische Konsumkriegsfriede.
Die Geburt Jesu ist die Liebe Gottes zu den Menschen, die so stark war, daß er seinen Sohn ins irdische Jammertal hinabsandte, um die Menschheit zu erlösen und den Glauben zu erneuern. Wir, ungläubige Sterbliche, bekommen das mit der Liebe und der Hingabe nur in kurzen Momenten hin. (Die Geschenke sind der Versuch, diesem Moment in Warenform das Leben zu verlängern.)
Das hat mit dem Glauben zu tun, dem Glaube, der Jesus auf dem Wasser laufen ließ, der einst die Hingabe transzendierte. Nirgends ist der Verlust des Glaubens so spürbar wie an Weihnachten, dem Fest der Erneuerung, das uns kündet, was uns Paulus verheißen: „Die Liebe aber höret niemals auf.“
Paul Thek hat aus dem vollen geschöpft: Leben und Tod, Diesseitsfreude und Jenseitssehnsucht. Ein barocker Künstler. Er war gläubig und wollte mit fünfzig noch ins Kloster gehen. 1988 starb er an Aids. Sein letztes Bild, das er kurz vor seinem Tode malte, heißt: „The Face of God“. Gottes Angesicht.
Auf Zeitungspapier sieht man ein türkisblaues Wasser. Eine Uhr auf dem Wasser zeigt ihm an, daß seine Zeit abgelaufen ist: fünf vor zwölf. „The Face of God“ steht unter der Uhr auf dem Wasser. Ohne Fragezeichen. „Noch sehen wir mittels eines Spiegels im Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht“, heißt es im Korintherbrief. Paul Thek glaubte daran, er glaubte, daß ihm das Angesicht Gottes bevorstand.
Ohne den Glauben ist das mit Weihnachten eine fragile Angelegenheit. Und so basteln wir Jahr für Jahr heimlich und leise (nicht nur zur Weihnachtszeit) an der Stiftung einer möglichen gesellschaftlichen Transzendenz, welche die Erneuerungsfähigkeit des Menschen in den dunkelsten Zeiten zu erinnern und erhalten vermag. Wir suchen das Licht, das neu in die Welt kommt.
Hannah Arendt hat eine Theorie des Handelns daraus gemacht. „Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem einzelnen die Tatsache des Geborenwerdens“, sagt sie. „Daß wir es als Lebende überhaupt aushalten, mit dem Tod vor Augen zu existieren, mag damit zusammenhängen, daß wir jeweils (durch unser Handeln) in eine uns spannende Geschichte verstrickt sind, deren Ausgang wir nicht kennen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen