piwik no script img

Foie Gras

Weihnachtsfest für Obdachlose  ■ Von Gabriele Goettle

Es regnet stetig, es ist ein tröpfelnder, alles durchfeuchtender Regen, ein ununterbrochenes Rinnen von Bäumen, Dächern und Schirmen. Die Adventsgeschäfte laufen gut. Zum ersten Mal in der Geschichte bleiben sechs Millionen Arbeitslose unsichtbar. Die Rolltreppen rollen, die hydraulischen Türen in Kaufhäusern und U-Bahnen öffnen sich rechtzeitig und vor jedem, der Einlaß begehrt. Mit willkommener Duldsamkeit und freudlosen Gesichtern tragen die schwer bepackten Konsumenten alle erforderlichen Liebesgaben nach Hause. Aber der Kampf ist längst ausgebrochen zwischen Untertan und Obrigkeit. Der Bürger beantwortet die miserablen Gegenleistungen des Staates mit Verschlampung, durch mutwillige Mißachtung von Geboten, durch Verschmutzung und Zerstörung der ungepflegten öffentlichen Parkanlagen und Straßen. Es riecht nach Vandalismus, Graffiti und Urinspuren bedecken die Wände der Häuser, Bahn- und U-Bahnhöfe, leere Bierbüchsen und Zigarettenkippen liegen herum, ausgelesene Bild-Zeitungen treiben Unter den Linden dahin. Es ist auch ein zähes Markieren der angestammten Gebiete, eine Art Bannfluch gegen die protzige architektonische Aufrüstung Berlins zur modernen Metropole und gegen die Ankunft der politischen Klasse. Die Reviere jedoch wurden bereits abgesteckt. Das alles vergiftet die Stimmung, verdirbt die Manieren und die Konturen der Lippen. Eine gewisse nach unten gebogene Schmallippigkeit prägt, alters- und geschlechtsübergreifend, das öffentliche Mienenspiel. Diesem Chaos geben virtuos spielende Musiker aus St. Petersburg einen kultivierten Rahmen. Sie tragen Klassisches und deutsche Weihnachtslieder vor, ab und zu bleibt jemand kurz stehen oder wirft im Vorbeigehen eine Mark in einen mit rotem Samt gefütterten Instrumentenkasten. Den Musikern ist warm, die Kragen ihrer Jacken steh'n weit offen. Zu Hause in St. Petersburg herrschen minus 30 Grad. Das verspricht einer der kältesten russischen Dezember zu werden, seit der Belagerung Leningrads 1941/42.

Ein kräftiger Mann Mitte Vierzig, mit camouflageartig gemusterter Freizeithose, Anorak und Springerstiefeln bekleidet, betritt den vollbesetzten U-Bahnwagen im letzten Moment und erhebt, unmittelbar nach dem Schließen der Türen, seine Stimme: „Herrschaften, ich wünsche einen wunderschönen guten Tag. Normalerweise verkaufe ich die Obdachlosenzeitung, aber die ist leider eingegangen, und nun steh' ich auf dem Schlauch. Aber ich bin nur einer von vielen, die das nicht verdient haben. Kein Mensch hat das verdient, auf der Straße zu liegen. Geben Sie bitte eine kleine Spende, damit wir uns über Wasser halten können. Man ist ja so schnell unten heutzutage, das können Sie sich gar nicht vorstellen, und ist man erst mal unten, dann kommt man so schnell nicht wieder da raus, Herrschaften, aber ich versuche es, wie Sie sehen. Kein Mensch hat es verdient, auf der Straße zu liegen! Helfen Sie mit einer kleinen Spende. Herzlichen Dank im voraus.“ Er geht zügig, mit fragendem Blick von Sitzbank zu Sitzbank. Alle Augen blicken an ihm vorbei, niemand gibt etwas. Beim Aussteigen im nächsten Bahnhof ruft er schneidend: „Schöne Weihnachten noch, auch für das liebe Hundchen!“ und verschwindet ins nächste Zugabteil, wo sich die Szene so oder ähnlich wiederholt. Vielleicht sind der Tonfall und die mehrmalige Verwendung des Wortes „verdienen“ der Grund dafür, daß weder Schuld- noch Mitgefühle aufkommen. Am Halleschen Tor herrscht dichtes Gedränge auf der Treppe. Hinter mir steigt ein Paar im Großelternalter die Stufen hinab: „Ich hab noch nichts Passendes gefunden“, sagt der Mann, und die Frau entgegnet: „Von den drei Enkeln kriegt jeder einen Fünfziger, mehr ist nicht drin dieses Jahr!“ Bleigrau fließt seitlich der Landwehrkanal dahin. Die Enten haben sich unter die Zossener Brücke zurückgezogen, dort sitzen sie auf den Steinen und warten. Zwei ältere, leicht verwahrloste Männer lenken ihre unsicheren Schritte durch die Grünanlage, hinüber zum weithin sichtbaren Kuppelbau der Heilig-Kreuz-Kirche. Vor dem Eingang hängt ein Transparent mit der Aufschrift „Fest der Obdachlosen“. Etwas abseits bietet das Arztmobil kostenlose Behandlung und bei Bedarf Salben, Verbände oder auch Schmerztabletten an. Veranstalter des Festes ist die Arbeitsgemeinschaft „Leben mit Obdachlosen“, zu der sich 60 katholische, evangelische und freie Gruppen zusammengeschlossen haben, um Hilfseinrichtungen für Obdachlose zu gründen und zu betreiben.

Drinnen, in dem außergewöhnlich aufwendig modernisierten und durch geschickte Stahlkonstruktionen und viel Gals auf mehreren Ebenen begehbar und transparent gemachten Kirchenraum sitzen an langen Tischen schon schätzungsweise mehrere hundert Menschen. Es ist warm, durchs Stimmengewirr dringt ab und zu auch eine Kinderstimme. Tina, eine Frau Mitte 30 mit gewichtigen Brüsten, Hüften und Schenkeln, aber einem kindlich-unschuldigen Gemüt, begrüßt mich. Streng schaut sie mich mit ihren blauen Augen an, die klar sind und kalt wie Bergseen, und sagt: „Du kommst ja reichlich spät! Ich mache hier heute so was wie Platzanweiserin.“ Sie führt mich durchs Gedränge zu einem Tisch, an dem der getreue Antiquar sitzt und zwei Plätze freigehalten hat. „Nachher komm' ich zu dir“, sagt Tina und verschwindet eilends. Am Nebentisch sitzt Peter, er kauert, eingehüllt in einen dicken, dunklen Wollmantel, auf seinem Stuhl und reibt sich die Hände. Neben ihm der Blinde mit dem immergleichen triumphierenden Gesichtsausdruck desjenigen, der die besseren Karten gezogen hat. „Der liegt immer noch im Park draußen“, sagt der Blinde, kichernd über so viel Ungeschicklichkeit, und erhebt mahnend seinen Stock, „der wird schon sehen, wie er sich die Beene abfriert!“ Peter lächelt mild und sagt: „Die Zehen hab' ich mir doch schon abgefroren, letzten Winter.“ „Sag' ich doch“, brummt der Blinde zufrieden. Peter streckt mir seine frostgerötete kalte Hand hin und sagt: „Letzte Nacht du, da bin ich aber mächtig naß geworden, und dann wurd's mir plötzlich kalt, o weh! Bei Edeka, wo ich immer in der Papppresse geschlafen hab', da ist zu, nun bin ich wieder im Jahnpark drinne, auf meinem alten Plätzchen, da stört mich wenigstens keiner um fünfe früh mit Warenlieferungen. Nur die Hunde, die nehmen mir immer alles ab, die beißen meine Tüten auf und fressen meine Stullen weg.“ Er lacht gutmütig und fragt: „Haste gesehen, ob die mit der Gulaschsuppe bald kommen? Mir ist schon ganz schlecht vor Hunger.“ Der Blinde holt aus seiner Tasche eine lappige, bleiche Toastbrotscheibe und reicht sie ihm. Während er noch daran kaut, kommt die Gulaschsuppe. Teller für Teller wird weitergereicht, bis jeder einen hat. Auf der anderen Seite werden bereits die halben Hähnchen verteilt, die im Autogrill auf dem Vorplatz geröstet wurden. „800 halbe Hähnchen“, raunt andächtig ein Punk mit gelbem Haar. „Massenmord ist das und sonst nichts!“ ruft die untergewichtige Vegetarierin und rückt ihren Teller voller Käsebrote angewidert vom Hahn ihres Nebenmannes weg. Der Duft der gebratenen Hähnchen steigt von den Tellern auf und schwebt hinauf in die Kuppel. Der Antiquar rümpft die Nase und seufzt: „Jetzt ist jeden Tag irgendwo eine Weihnachtsfeier und überall nichts als Hühner, Kuchen und Plätzchen. Gestern gab's bei St. Camillo sogar zwei halbe Hühner, mit katholischer Predigt.“ Er trinkt einen Schluck Kaffee aus dem Plastikbecher und fügt hinzu: „Bruno zum Beispiel, hast du den gesehen? Der hat fast fünf Kilo zugenommen in der kurzen Zeit, voriges Jahr mußte er mit Wasser und Fettleber ins Krankenhaus zum Abspecken, alle werden zu fett, und auch ich kriege die Hose kaum noch zu, ich weiß gar nicht, wie ich das überstehen soll.“ Eine Clownin erscheint zwischen den Tischen, sie trägt ein glänzendes Kostüm und bewegt sich in Pantomimenart ruckartig und mit weit aufgerissenem Mund an den Essenden vorbei, die kurz aufblicken und sich dann wieder ihren Tellern zuwenden. Ich dränge mich durch die Menge und versuche zu zählen: An 40 großen und kleinen Tischen sitzen etwa 600 bis 700 Menschen, die meisten sind schätzungsweise zwischen 40 und 70 Jahre alt, 80 Prozent sind Männer. An einem der Tische treffe ich auf den „kleinen Fotografen“, ein zierlicher älterer Herr, der mit ei nem Vergrößerungsglas vor der Linse Blumen fotografiert, immer in der Hoffnung, die Bilder als Postkarten verkaufen zu können. Er war früher Opel-Arbeiter und lebt unter sehr schlechten Verhältnissen in einer ehemaligen Nazi- Fliegerkaserne in Spandau, berüchtigte Notunterkunft für Arme. Eingezwängt zwischen einer Rentnerin und einem bärtigen Berber, sitzt er schweigend da und ißt ein Stück Pizza. An beiden Handrücken prangen frisch aufgekratzte Geschwüre. Er gibt mir die Hand und versucht die Wundmale zu verbergen. „Du, ich glaub', ich kriege jetzt eine Wohnung, schau mal bitte.“ Er reicht mir ein Amtsschreiben, aus dem nur hervorgeht, wann er sich vorzustellen hat. „Vielleicht klappt es, denn du weißt ja, bald kommt mein sogenannter Mitbewohner, der Raucher und Trinker ist, aus dem Krankenhaus zurück. Dann wird mein Leben wieder unerträglich, zu zweit in diesem kleinen Zimmer.“ Am Tisch nebenan sitzt der Prolet mit der Sonnenbrille (wegen der immer noch empfindlichen, aber gebesserten Augen) und spielt Karten mit zwei anderen Männern. Einer davon ist ein schwuler, sehr hilfsbereiter Engländer, oder Brite, wie er betont. Er erzählte mir mal, er habe sein Land damals verlassen aus Protest gegen die Politik von Frau Thatcher und nun kehre er nicht zurück, weil er seine aidskranken Freunde nicht verlassen wolle. Die Kartenspieler sind in guter Stimmung, obgleich Fite, der Prolet, mal wieder Pech hatte, die Elektrizitätswerke stellten ihm den Strom ab, die Rechnung kann er nicht bezahlen, drei Mark siebzig hat er noch in der Tasche. „Ich kann mir nicht mal 'nen Tee machen, sitze bei Kerzenlicht zu Hause. Aber das tun ja alle in der Adventszeit, was soll sein“, sagt er und haut eine Herzdame auf den Tisch.

Eine der Helferinnen geht herum und fragt: „So, Leute, habt ihr alles, fehlt noch was, oder hat hier vielleicht jemand noch kein Huhn von euch? Aber nicht schummeln. Salat ist alle, leider. Also alles klar soweit, bei euch!“ Der Antiquar, der heute unentwegt seufzt, sagt: „Zehn Weihnachtsfeiern ham wir noch zu bewältigen.“ „Ich fünf“, sagt sein Gegenüber, und vom Nebentisch beugt sich ein älterer Mann mit starken Brillengläsern herüber und fragt nach Ort und Zeit dieser Feiern. Akribisch notiert er sich alles auf die Rückseite des heutigen Einladungszettels. Fünf sehr junge Punkmädchen, fast noch Kinder, mit Nasen- und Ohrringen, zerfetzten Jeans, Bergschuhen, genagelten Lederhalsbändern und Ketten an den Jacken, haben sich mit ihren schönen Hunden, Brathühnern und Rucksäcken rund um eine brennende Kerze auf dem kalten Kirchenboden niedergelassen. Man steigt vorsichtig über ihr Gepäck hinweg. Pfarrer Achim, grau und unscheinbar, eilt mit einem Stapel Papierservietten von Tisch zu Tisch, die meisten Leute aber haben bereits ihre fettigen Hände an den Hosenbeinen abgewischt. Die taube Rentnerin, der man alles direkt ins Ohr schreien muß, kann ihre Keule nicht aufessen und gibt sie dem hochbeglückten Gegenüber, einem Mann Mitte Fünfzig, der zur Feier des Tages eine bunte Krawatte angelegt hat. „Danke“, brüllt er und beginnt zu essen: „Ich hatte noch solchen Hunger“, sagt er kauend. „Früher, als ich noch bei Coca-Cola gearbeitet habe, da gab's in der Betriebskantine Weihnachten immer Gänsekeule mit Rotkohl und dazu Klöße und Soße natürlich... Also neulich, da war ich mal draußen, in Lichterfelde Ost, da erkennt man bald gar nichts mehr wieder, nicht mal den eigenen Weg, den man da jahrelang vorbeigegangen ist an den Betrieben und allem...“ „Traurig, traurig“, murmelt sein Nachbar und starrt in die Kerzenflamme. Tina kommt wieder vorbei. Sie ist in nervöser Verfassung, muß sich an ihre neuen Lebensumstände erst gewöhnen. Sie, die jahrelang keinen festen Wohnsitz hatte und mal hier, mal dort übernachtete, mal in der Psychiatrie lebte, mal bei Freunden, in Asylen, Notunterkünften und Wohnheimen, hat vor kurzem eine kleine Wohnung mit Zentralheizung und Dusche gefunden, in der sie, ganz allmählich, heimisch zu werden gedenkt. Am Bahnhof Zoo hat sie einen Mann kennengelernt, in den sie sich verliebt glaubt, der ihr aber keinerlei Angaben zu seiner Person machen will. „Vielleicht kommt er ja doch, der Namenlose“, sagt sie mit leichter Hektik in der Stimme. „Und was andres noch, ich hab' doch diese Probleme mit Einstein, ich weiß nicht, was ich machen soll. Er geht nicht mehr aus meiner Wohnung raus. Nachts kann er ja bleiben. Du weißt, ich bin nicht gern allein, aber wenn ich aus dem Haus gehe, morgens, dann muß der auch gehen heute, ich lass' doch niemanden allein in meiner Wohnung! Ich sagte zu ihm heute, paß mal auf, wenn's dir schlecht geht, kannst du nicht hier liegenbleiben, dann geh weg und komm erst wieder, wenn's dir besser geht. Dann ist er Gott sei Dank aufgestanden und mitgekommen. Der hat ja jetzt wieder ein Engagement, drum ist er vielleicht so kaputt.“ Sie erhebt sich, um den „Mann ohne Namen“ zu suchen. „Alle kriegen jetzt eine Wohnung. In Berlin gibt's eine Wohnungsschwemme, und weißt du auch warum?“ fragt der Antiquar lachend, „Wunder des Kapitalismus sind das! Sonderabschreibung Ost. Da, wo alle Reichen ihre Steuern gespart haben, daraus sind jetzt im Osten die Wohnparks doch alle entstanden, und dort ziehen die Leute nun hin, in Massen, raus aus der Stadt aufs Land. Und das Schönste ist“, fügt er begeistert hinzu, „jetzt fehlen Berlin auch noch diese Steuern!“ „Und wir zahlen ja keine“, sagt der mit der geschenkten Keule. Die Clownin führt seit einiger Zeit Zauberkunststücke vor, just in diesem Moment läßt sie Münzen verschwinden, was am Tisch große Heiterkeit hervorruft. Eine Punkerin verteilt Zettel mit den Texten der Lieder, die anschließend gesungen werden. Auf ihrem T-Shirt steht „EAT THE RICH“.

Ein wenig später treffe ich draußen vor der Kirche zwischen den Rauchern auch Horst. Alleine, ohne Angelika. Horst und Angelika sind ein Doppel, fast immer zusammen, eines der wenigen Paare hier. Horst hat verquollene Augen, ist aber sauberer gekleidet als sonst. Er bietet mir aus einer rotgoldenen flachen Dunhill-Packung eine Zigarette an: „Ach stimmt, du rauchst ja nicht, dabei habe ich heute was Besonderes, zur Feier des Tages, das kann ich mir ja nu alles gönnen.“ Er zündet sich eine an, und seine stark überfütterte Hündin Susi, die trotz aller Korpulenz ausgesprochen lebhaft ist, springt ununterbrochen an ihm hoch, stößt aber auf Desinteresse und wendet sich resigniert den Hunden der Punks zu, die sofort in aufgeregte Begattungslust verfallen. „Die ist doch gar nich läufig“, sagt Horst und schüttelt den Kopf. „Weiber!“ Ich frage nach Angelika, und er winkt ab, mit Tränen in den Augen: „Ach, na die, die kannste vergessen. Vorhin war ich da, sie macht auf, nicht gewaschen, blau, im Zimmer schlechte Luft, und alles liegt rum, auf dem Tisch, das ganze Geschirr, kein Hundewasser in der Schüssel und er, der Neue, kommt raus, aus unserem Schlafzimmer! Solche dicken Augen, kann sich kaum auf den Beinen halten, sagt: ,Hallo Schatz, is noch 'n Bier da?' Ich hab mir die Susi geschnappt und bin gleich wieder abgehauen. Sie hat ihre schöne Arbeit ja aufgegeben. Ich arbeite noch. Bin natürlich ausgezogen, jetzt wohne ich im Männerheim, erst mal. Hunde dürfen nicht rein, leider. Nu hol ich die Susi jeden Tag nach der Arbeit ab, die macht ja keinen Schritt vor die Tür mit dem Hund. Na egal, ich will mal seh'n, daß ich schnell 'ne Wohnung kriege, und dann nehm' ich Susi zu mir. Ne schöne, helle Wohnung, nicht so ein finsteres Loch wieder.“ Er lächelt traurig zum Abschied und geht hinüber zu den Punks, um seine Hündin aus dem Pulk der Bewerber zu befreien. Ein wenig später treffe ich auf Einstein, der auch draußen steht und raucht, eingehüllt in seinen schönen alten Wintermantel, wie stets die Ledertasche am Schulterriemen tragend. Er ist eine Mischung aus Berber, Althippie und Apo-Opa. Das lange weiße Haar trägt er als Pferdeschwanz gebunden, es wirkt frisch eingefärbt, die eine Hälfte orange, die andere grellgrün. Eigentlich heißt er Heinz, Einstein ist ein Spitzname und spielt auf seine gelehrige und belehrende Redeweise an. Sein schmales Gesicht mit der langen Nase legt sich in Falten beim Lachen, Zähne scheint er kaum noch zu haben. Gefragt nach dem Engagement, sagt er. „Ja, ja, wir machen jetzt den ,Brotladen' von Brecht... Ja... Was soll ich sagen, ,Mahagonny' wollten wir eigentlich machen, aber der bürokratische Kram war so groß, das war schrecklich. Wir mußten uns ja mit den Brecht-Erben auseinandersetzen, wegen der Rechte. Also da wurden uns dermaßen viel Auflagen gemacht... Beispielsweise Originalinstrumentierung, und alle Songs sollten drin sein, die meisten Rollen hätten von professionellen Schauspielern gespielt werden müssen, solche Sachen halt. Damit hat man uns ,Mahagonny' regelrecht unmöglich gemacht, mit diesen ganzen Auflagen. Na, das war wohl auch die Absicht. Man wußte, wir sind ja nur das Obdachlosen- Theaterprojekt ,Die Ratten', wir sind ja arme Laien und können die Auflagen gar nicht erfüllen...“ Tina steht mit gezücktem Fotoapparat vor uns und drückt auf den Auslöser. „Hat es geblitzt?“ fragt sie besorgt, „ich hab' nämlich gar keinen Blitz gesehen. Das ist übrigens eine Neuerwerbung, 48 Mark hat der nur gekostet, das geht doch, oder? Und dann hab' ich mir auch dein Buch geholt“, sagt sie, zu mir gewandt, „da staunste, und noch was mußte ich kaufen, ein schönes, großes Plüschtier. Das brauche ich zum Schmusen, wenn ich schon keinen Mann habe!“ Zufrieden geht sie davon. „Ja...“, versucht der etwas verwirrte Einstein den Faden wiederzufinden, „ah, dann haben wir also entschieden, den ,Brotladen' zu machen, das ging wiederum auch nicht so ohne weiteres, die Rechte hat der Suhrkamp Verlag, und von da bekamen wir natürlich auch Auflagen gemacht, aber es geht. Das Stück ist ja nicht allzu oft gespielt worden, es ist nicht besonders lang, aber es paßt absolut in die Zeit heute... Und ein bißchen Aufruf zum Klassenkampf kann den Arbeitslosen ja auch nicht schaden, oder?“ Er lacht meckernd und vergnügt. „Komm doch mal rum und schau zu, wenn du Zeit und Lust hast!“ Jemand legt mir den Arm um die Schulter, es ist Roswitha. Sie lacht und präsentiert makellos weiße Zähne. Die frühere Zahnarzthelferin und spätere Vagabundin hegt ihr Gebiß mehr als ihre Gesundheit. Sporadische Alkoholexzesse läßt sie über sich ergehen, grauenvolle Armverletzungen und Operationen ebenso, aber die Zähne hält sie von allen Gefahren fern. Längere Zeit, bis zur Räumung durch die Polizei im vergangenen Jahr, lebte sie in der Wagenburg an der East Side Gallery, danach in wechselnden provisorischen Unterkünften. „Weiß du schon das Allerneuste? Ich habe eine Wohnung mit Zentralheizung und Bad, 19. Stock, im Märkischen Viertel. Endlich! Ich habe mein ganzes restliches Zeug hingeschafft, da war ja nicht viel übrig, weil unsere ganze Habe wurden von den Bullen damals konfisziert, und dann landete sie auf der Deponie, jedenfalls, so nach und nach, werde ich mich ein bißchen einrichten. Hauptsache, ich habe erst mal meinen eigenen, festen Unterschlupf, ist doch so!“ Sie bläst in ihre kalten Hände.

Drinnen treten drei junge Mädchen auf, zeigen Kunststücke mit dem Einrad. Sie balancieren auf ihren Sätteln, fahren ruckartig Kreise und weichen den Hunden der Punks aus, die sich von allen Darbietungen ganz persönlich angesprochen fühlen. Wenig später scheppert es fast unhörbar im hinteren Kirchenraum. Eine kleine Hundemeute hat einen zartgelben gläsernen Kelch voller Lilien umgeworfen und leckt zwischen den Scherben gierig das Wasser auf, dann wendet sie sich wieder den Lustbarkeiten zu. Die zahnlose Mutter kommt und nimmt an unserem Tisch Platz, sie hat frischgewaschenes Haar und ist, wie üblich, so gekleidet, daß alles, was sie trägt, der Farbe und dem Muster nach aufeinander abgestimmt ist. „War der Nikolaus schon da?“ fragt sie laut, und die Umsitzenden verneinen. Mir schräg gegenüber hat eine ältere Frau Platz genommen, mit einer Frisur vom Friseur. Das fällt hier auf, denn niemand kann sich eine solche Ausgabe leisten, und der sogenannte Warenkorb für Sozialhilfeempfänger beinhaltet sie nicht. Die Frau trägt Ohrringe. Beide Hände liegen ruhig auf dem Tisch, die Nägel sind gepflegt und unlackiert, ein sehr leichtes, feines Lächeln scheint in ihren Gesichtszügen übriggeblieben zu sein, von früher. Der Antiquar nähert sein listiges Fuchsgesicht meinem Ohr und flüstert: „Ranke-Heinemann! Die Frau sieht doch genau aus wie diese Theologin da, die immer den Papst kritisiert.“ Und tatsächlich, die Ähnlichkeit ist groß. Zwei Mädchen und ein dicklicher Junge jonglieren mit brennenden Fackeln und ziehen die Aufmerksamkeit aller auf sich. Der Junge steht im Abstand von einem bis eineinhalb Metern zwischen den Mädchen und blickt mit starrem Ausdruck geradeaus, während die lodernden Fackeln haarscharf an seinem zarten Mondgesicht vorbeifliegen. Der Beifall ist herzlich, denn jeder hier im Saal fühlt sich, auf die eine oder andere Weise, behandelt wie der kleine Junge. Wie angekündigt, treffen die Stadträtin und der katholische Bischof ein und werden von Pfarrer Achim in den hinteren Teil des Kirchenraumes geleitet. Ihre Reden halten sie in einer Mischung aus Amtsjargon und Schlichtheit, womit der Fettnapf bereits mit eingebaut ist, vor so einem Publikum. Die Stadträtin schließt mit den Worten: „Ich wünsche Ihnen, daß sie heute nachmittag etwas von dieser guten Laune und guten Stimmung hier mit nach Hause nehmen, wenn ich sage ,nach Hause', dann weiß ich sehr wohl, wie schwierig es ist, darüber in diesem Kreise zu sprechen“, und sie versichert, daß „viel dafür getan wird, daß alle Wohnungen bekommen können“. Der Antiquar kichert. Die zahnlose Mutter lacht höhnisch auf und sagt halblaut: „Jehnse doch erst ma arbeeten! Na is doch so, die stellt sich hier hin, keene Ahnung vom Leben und quatscht süßlich. Det nenne ick nich arbeeten!“ Frau „Ranke-Heinemann“ wirft einen erstaunten Blick in die Runde. Als nächstes spricht der Bischof, der, da gerade von Ähnlichkeiten die Rede war, ein wenig aussieht wie Adorno. Nach der allgemein gehaltenen Vorrede begrüßt er es, daß: „...sich heute in dieser Kirche, die zusammen finden, die kein Obdach über sich haben...“ und spendet Trost mit den Worten: „Wenn man Freude aufnimmt, Freude erlebt, das hält ein bißchen durch, es gibt ja auch in den nächsten Tagen und Wochen an verschiedenen Stellen noch weitere Feste und Zusammenkünfte, da sind Sie sicherlich auch alle eingeladen und herzlich willkommen, so daß es immer mal so freudige Stunden für Sie alle gibt...“ Die zahnlose Mutter winkt ab und sagt: „Quatsch mit Soße!“

Es folgt ein mit Begeisterung aufgenommenes Spektakel: Knecht Ruprecht mit Abfallsack und Bart tritt wild auf, haut den Plastiksack auf einen Stuhl und zeigt die Rute, in die sich prompt ein Punkhund tapfer verbeißt. Wieder abgeschüttelt, zieht der sich zurück und beschränkt sich hinfort auf empörtes Bellen mit den Kollegen. Der Nikolaus erscheint im Bischofsgewand, mit Mütze und Stab, eine blaue Mülltonne vor sich herschiebend. Es ist Pfarrer Achim, der den verarmten, in einer Mülltonne hausenden Bischof spielt. Mit einem „Eng, aber gemütlich“ steigt er in die Tonne und verschwindet. Ein Betrunkener ruft: „Rin und Klappe zu!“ Der Antiquar flüstert: „Beckett“, und die zahnlose Mutter fragt: „Wat hat 'n der für ne ulkije Mütze uff?“ Der Antiquar sagt: „Tiara heißt die.“ Woraufhin Frau „Ranke- Heinemann“ mit gütigem Lächeln korrigiert: „Eine Mitra ist das.“ „Ah ja, Mitra, Mitra, ich hab' mich vertan“, sagt der Antiquar, und Frau „Ranke-Heinemann“ fährt fort: „Die Tiara, das ist diese dreifache Papstkrone mit Reichsapfel, die Mitra dort, mit den zwei Zipfeln, das ist, in der katholischen Kirchentradition jedenfalls, immer die Bischofsmütze“ Und zur zahnlosen Mutter gewandt: „Den Nikolaus, den gab's nämlich wirklich, er war Bischof in Kleinasien und ist vor 1.600 Jahren gestorben, an einem 6. Dezember. Später wurde er dann heiliggesprochen vom Papst.“ Der Antiquar stößt mich unter dem Tisch mit dem Knie an und schaut vielsagend, die zahnlose Mutter sagt unter leichtem Kichern: „So jenau wollte ick det nu ooch nich wissen.“ Der Antiquar räuspert sich und ergänzt: „Und die Rute und den Sack, die hat ja bei uns meistens der Nikolaus, die gehören aber, wie's hier ist, zum Knecht Ruprecht, und der ist doch eine heidnische Figur, von den Germanen her mitgeschleppt...“ Die Dame nickt bestätigend, und die zahnlose Mutter sagt etwas ironisch: „Wat ihr so allet wißt, det jeht in keen normalet Jehirn rin!“ Dann erhebt sie sich, zieht den Mantel über und rät: „Kommt Leute, wir jehn uns schon ma anstellen, sonst wird's zu voll, die verteilen nämlich am Ausjang die Jeschenke.“

Dem Rat der Tüchtigsten folgen alle am Tisch und gelangen so mit den Ersten hinaus aus der Kirche. Beschenkt mit einem Päckchen Tabak, Zigarettenblättchen und zwei paar Socken, geht jeder seiner Wege und verschwindet in der kalten Dezembernacht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen