■ Lionel Jospin setzt alles auf die 35-Stunden-Woche. Wenn er damit scheitert, bleibt den europäischen Sozialisten nur noch das Modell Blair: Wundermittel Arbeitszeitverkürzung?
In der westeuropäischen Arbeitskrise, die sich seit einem Vierteljahrhundert immer tiefer einfrißt, hat der Beginn des Jahres 1998 ein Merkdatum gesetzt. Zum ersten Mal haben Gewerkschaften offen Front gegen Arbeitslose gemacht. Gewerkschaftsführer zogen eine Verteidigungslinie um ihre Mitgliedertruppen – und machten damit diese zu Privilegierten inmitten einer verfallenden Arbeitsgesellschaft, in der die Arbeit selber zum spaltenden Element wird.
Es geschah in Frankreich, einem Land, in dem der soziale Konflikt, anders als im wortdunstverhangenen Deutschland, schnell auf politische Begriffe gebracht wird. Während der beiden ersten Januarwochen griffen die vier „reformistischen“ Gewerkschaften CFDT, FO, CFTC und CFE-CGC die in den Wochen zuvor aufgeschossenen Arbeitsloseninitiativen an. Diese hielten mittlerweile rund 30 staatliche Sozialämter besetzt.
Marc Blondel, der autoritäre Chef der Force Ouvrière, nannte die von den Arbeitslosen erhobenen Forderungen „besonders gefährlich, denn sie führen unvermeidlich zu Ansprüchen gegenüber denjenigen, die Arbeit haben“. Und, für französische Ohren noch bösartiger: „Das ist keine Gewerkschaftsbewegung, das ist Poujadismus.“ Das war jenes Lumpenkleinbürgertum der verarmten Einzelhändler, die in den frühen 50er Jahren unter ihrem Führer Pierre Poujade eine staatsfeindliche Bewegung der Steuerverweigerung auf die Beine brachte. Wer in Frankreich daran erinnert, verweist immer auch auf die Gefahr des Bonapartismus, der die Verelendeten seit jeher instrumentalisiert. Das war auch eine Ohrfeige für die linke Regierung, die die Delegation der Arbeitslosen in diesen Wochen empfangen hatte.
Ebenso schalt der Vorsitzende der christlichen Gewerkschaft CFTC, Alain Deleu, die Regierung dafür, daß sie „den roten Teppich vor den Arbeitslosen ausgebreitet hat und damit die Vertretungen der Lohnempfänger und der Arbeitslosen“ diskreditiere, die Gewerkschaften also. Die vor zehn Jahren noch linksreformistische CFDT schließlich sah darin ein weiteres Manöver gegen ihre Generalsekretärin Nicole Notat, die von einer Manipulation der Arbeitslosen gesprochen hatte. Damit war vor allem die CGT gemeint, der noch immer ihre einstmals enge Verbindung zur kommunistischen Partei anhängt – und die als einzige Gewerkschaft die Bewegung der Arbeitslosen organisatorisch unterstützt. Alles nicht gerade ein Bruderkrieg, aber verschärfte Feindseligkeit zwischen den Gewerkschaften, ausgelöst von den Randständigen.
Und verschärfte Kritik auch an der Regierung, die in diesem nervösen Klima ihr Hauptprojekt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch das Parlament bringen mußte: die gesetzlich verordnete 35-Stunden-Woche. Dabei hat sie nicht nur den Arbeitgeberverband und die konservativen Oppositionsparteien gegen sich. Auch die Mehrzahl der Gewerkschaften ist entweder gegen das Projekt oder steht ihm demonstrativ gleichgültig gegenüber.
Gerade die sozialdemokratisch orientierten Bünde CFDT und FO ließen die Regierung im Stich, während die CGT zu ihr hielt – und nun auch die Arbeitslosenvereine. Eine etwas ähnliche Szene also wie in Italien, wo die Regierung Prodi ebenfalls die 35-Stunden-Woche anpeilt und dabei heftig von den Kommunisten gedrängt wird. Ebenso wie Jospin hat sie dafür die meisten großen Gewerkschaften gegen sich. Der heute in Europa angesehenste Gewerkschaftsführer, der Ex-Vorsitzende der CGIL, Bruno Trentin, der die Regierung prinzipiell unterstützt, hält nichts davon. Es gebe „nichts Absurderes und Bürokratischeres“ als die gesetzliche 35-Stunden-Woche. Und schließlich wird auch der Europäische Gewerkschaftsbund seine Unterstützung für die verkürzte Arbeitszeit aufkündigen.
Es ist auch das letzte große Projekt, das sich eine nationale Sozialdemokratie in Europa überhaupt noch zutraut. Scheitert es, weil sich Arbeitgeber und Gewerkschafter dagegen sperren, dann bleibt nur noch wenig Sozialdemokratisches in Unionseuropa; dann bleibt fast nur noch die Blairisierung, der Verzicht auf jegliche Arbeits- und Sozialpolitik unter dem Gebot der Chancengleichheit und der sozialen Integration.
Doch da praktisch alle anderen Mittel der Arbeitsbeschaffung versagt haben, sieht sich Jospin mit dem Rücken zur Wand. Und vor sich sieht er die sechs Millionen, deren Einkommen bis an die Armutsgrenze oder gar darunter abgesenkt wurde. Der französische Sozialstaat hat längst erfüllt, was die deutschen Arbeitgeber noch immer fordern, doch die Unternehmer machen davon kaum Gebrauch. Geradezu beschwörend und flehend hat die Regierung daher das Gesetz mit zahlreichen Anreizen wattiert: Lohnkostenzuschüsse und Steuererleichterungen, Abschaffung von Überstunden, Flexibilisierung durch Arbeitszeitbudgets und vieles mehr. Aber die Chance ist nicht groß, daß sie das erhoffte Ziel erreicht: 500.000 bis 600.000 neue Arbeitsplätze in den nächsten drei Jahren.
Noch weiter vertiefen aber wird sich der Graben zwischen der organisierten Arbeitnehmerschaft und den Arbeitslosen, auf dessen Sohle die linke Regierung sich abmüht. Und dabei werden auch die verlieren, die noch etwas zu verlieren haben, also die Arbeits- und Berufsbesitzer. Es ist nicht viel anders als in Deutschland. Sie alle können und wollen nicht glauben, daß ihre große Mehrheit vor die Frage gestellt werden wird, wie Erwerbsarbeit umverteilt werden kann. Denn auch wenn sich die europäischen Staaten eines Tages zum garantierten Grundeinkommen entschließen könnten, wäre damit nicht einmal die Hälfte getan. Damit Gesellschaft überhaupt weiterhin bestehen kann, müssen alle ihre Mitglieder Zugang zu beruflicher Arbeit haben. Die 35- oder auch die 32-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich ist dafür nur ein schwaches, auch schwer handhabbares Werkzeug. Zuviel müßte mitverändert werden, damit es funktioniert. Aber es kann doch eine Vorschule sein für die viel weiter reichenden Umverteilungen der Arbeit, denen sich die Arbeitnehmerschaften werden unterziehen müssen – bei Strafe zunehmender Verwahrlosung und Revolte.
Die französische Regierung hat das halbwegs begriffen, auch wenn sie vorgeben muß, sie könne noch auf den Retter Wachstum setzen. Die französischen Arbeitnehmer und die meisten Gewerkschaften sind noch nicht soweit. Von der Lernfähigkeit der deutschen Arbeitnehmer, der Gewerkschaften und der Sozialdemokraten wollen wir lieber nicht reden. Claus Koch
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