: "Kein Befürworter der Sicherheitsdebatte"
■ Nicht die innere Sicherheit, Erwerbslosigkeit oder Mieterhöhungen seien die größten Probleme der Kreuzberger, meint der bündnisgrüne Bürgermeister Franz Schulz. Gegen die Bebauung von Grünanlagen
taz: Jährlich tauschen sich achtzehn Prozent, also fast ein Fünftel der Kreuzberger Bevölkerung, aus. Kann das ein Bezirk auf Dauer aushalten, ohne daß alle sozialen Strukturen kaputtgehen?
Franz Schulz: Die Fluktuationsrate ist nicht in allen Quartieren so groß. Wir haben in den sanierten Quartieren, etwa um den Mariannenplatz herum, sehr viel niedrigere Raten und eine sehr hohe Gebietsbindung. Sehr viel höhere Raten gibt es im sozialen Wohnungsbau, vor allem beim Neubau, beispielsweise am Mehringplatz und Wassertorplatz und in der südlichen Friedrichstadt bei den IBA- Bauten. Am Mehringplatz beispielsweise ziehen Mieter weg, weil sie eine relativ hohe Miete und Fehlbelegungsabgabe zahlen müssen und zugleich ihr Umfeld als schlecht empfinden. Für die gleiche Miete kann man in einem ruhigen und grünen Umfeld leben.
Das verschärft doch aber noch das Problem, weil vor allem die Besserverdienenden mit Kindern den Bezirk verlassen.
Das ist richtig. Wenn es nicht gelingt, Urbanität und Wohn- und Lebensqualität zu verbessern, dann wird diese Abwanderung weitergehen. Dazu zählt auch die Verbesserung der verkehrlichen Situation. So ziehen beispielsweise die Mieter entlang der Schlesischen Straße weg, seitdem diese eine Durchgangsstraße geworden ist. Außerdem haben wir zu wenige Grünanlagen oder, wie im Görlitzer Park, eine zu intensive Nutzung. Eine grünes Umfeld ist ein Stück Lebensqualität, das Menschen verlangen, insbesondere, wenn sie Kinder haben. Deswegen ist es für Kreuzberg so wichtig, daß am Gleisdreieck ein Park entsteht. Wichtig ist auch, daß die Mieten nicht ins Uferlose steigen.
Zum Problem gehört auch, daß immer mehr Industriebetriebe abwandern.
Auf bezirklicher Ebene haben wir in den letzten fünf Jahren eine rigorose Planungspolitik betrieben. Damit wollten wir Grundstücke mit sehr niedrigen Mieten für produzierendes Gewerbe vorbehalten. Wir sehen heute, das dies nicht vermocht hat, den Prozeß der Deindustrialisierung aufzuhalten. Gewerbebetriebe brechen weg, und zugleich ist der Gewerbeflächenmarkt durch ein Überangebot zusammengebrochen. Das Ergebnis sind enorme Leerstände von Gewerbeflächen.
Wo Dienstleistungsstandorte angeboten werden, wie beim Botag-Center, macht es vorhandenes Gewerbe kaputt.
Weil der Investor das geplante Kreuzberger Technologiezentrum nicht vermieten konnte, wurde auf eine Nutzung mit Geschäften ausgewichen. Ohne Rücksicht, ob dadurch andere gewerbliche Strukturen zerstört werden. Wir haben auch andere große Projekte wie das Hotel Industriell in der Köpenicker Straße. Da wird nicht gebaut, weil sie weder Gewerbe noch Dienstleistung hineinbekommen.
Das heißt, Kreuzberg hat in wirtschaftlicher Beziehung überhaupt keine Chance.
Nein. Wir müssen aber andere Wege gehen. Wir haben beispielsweise eine Interessengemeinschaft Spreegürtel gegründet, zusammen mit den Investoren. Ein Standort läßt sich auch über sein Image vermarkten. Wir streben an, den Spreegürtel in einen viel weitergefaßten städtischen Teilraum einzubetten, der Treptow miteinbezieht und auch die gegenüberliegende Friedrichshainer Seite. Wir wollen einen spreetypischen Standort entwickeln, der nicht den Charakter von SO 36 hat. Wir wollen das Image eines bevorzugten Standorts am Wasser vermarkten.
Interessanter Ansatz – aber passiert ist nichts.
Ein solches Konzept zu entwickeln kostet Geld. Am Anfang waren alle begeistert. Aber sobald Geld nötig wurde, fingen alle an zu rechnen.
Was kann man tun, daß gerade Familien bleiben, die jetzt wegen zu geringen Grünanteils und der Schulen mit hohem Ausländeranteil wegziehen?
Gegenwärtig müssen wir uns noch gegen eine weitere Verschlechterung wehren. Es gibt Vorschläge der Stadtentwicklungsverwaltung, vorhandene Grünflächen noch weiter zuzubauen und verkehrsberuhigte Bereiche wieder für den innerstädtischen Verkehr wieder zu öffnen. Werden diese beiden Punkte realisiert, dann wird das für viele Menchen Anlaß sein, wegzuziehen. Das ist ein Konzept, Kreuzberg zu entvölkern. Deswegen führen wir im Moment mehr einen Abwehrkampf, als daß wir die Lebensqualität verbessern können.
Ist das die Begründung, warum die Abwanderungsquote nächstes Jahr noch weiter steigen wird?
Von bezirklicher Seite kann eben sehr wenig gemacht werden. Was wir als Bezirk tun können, ist, den Trend zur Vermüllung zu stoppen, der sich in Teilquartieren entwickelt hat. Es gibt einige Straßen, die wirken wie eine einzige Müllhalde. Das läßt sich nicht mehr allein durch ein besseres Zusammenspiel zwischen Stadtreinigung und Bezirksamt lösen. Da geht es vielmehr um die Abgabe privater Verantwortlichkeit der Bewohner an den öffentlichen Raum. Was dort passiert, ist Gewalt gegen den öffentlichen Raum. Ich plane deswegen Bürgerversammlungen, um mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen und die Situation zu verändern. Dann wollen wir die Pflege von Grünanlagen verbessern und dafür den Bezirkshaushalt umschichten, um das zu ermöglichen. Wir haben in den letzten zwei Jahren die Grünpflege zugunsten von Jugendfreizeitangeboten heruntergefahren. Außerdem werden wir weiter fordern, daß Modernisierung nicht zu solchen Mietsteigerungen führen darf, die dann Mieter vertreibt. Wir prüfen derzeit, in dieser Frage einen Musterprozeß zu führen.
Welche Lösung gibt es für das subjekte Gefühl von Bedrohung durch Gewalt und Kriminalität?
Man muß feststellen, daß es ein solches subjektives Unsicherheitsgefühl gibt. Ich bin kein Befürworter dieser Sicherheits- oder Präventionsdebatte. Aber es ist wichtig, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, die dieses Unsicherheitsgefühl haben und sich beeinträchtigt fühlen – und dazu gehört nicht nur die Gewalt auf den Straßen, sondern auch das Müllproblem und die schulischen Probleme. Wir sind im Bezirksamt dabei, runde Tische für die Problembereiche vorzubereiten. Ich werde mich dabei aber nicht auf die Problematik der inneren Sicherheit festlegen lassen. Wenn ich mit Kreuzbergern rede, dann sind sie nämlich bei der Debatte über Gewalt nach spätestens zehn Minuten bei ganz anderen Problemen, die sie quälen: Erwerbslosigkeit, Mietprobleme oder schulische Probleme. Interview: Hannes Koch
Gerd Nowakowski
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