■ Editorial: Waren es doch die Nazis?
Kaum ein Ereignis in diesem Jahrhundert hat deutsche Historiker so intensiv und verbittert streiten lassen wie der Reichstagsbrand von 1933. Eine umfangreiche Memoirenliteratur von NS-Kriminalisten und Zeitzeugen sowie längliche Serien im Spiegel hielten die Öffentlichkeit jahrzehntelang in Spannung.
Schließlich war es für Hitlers Weg zur Alleinherrschaft nicht unwichtig, ob seine SA den Reichstag selber angezündet hatte, um einen Vorwand für ihre brutale Repressionswelle zu schaffen – oder ob die Nazis nur die Tat eines verwirrten anarchistischen Alleintäters geschickt improvisierend ausgenutzt
hatten.
Diese Debatten der sechziger und siebziger Jahre wurden allerdings ohne Kenntnis der Originalakten aus Ermittlungen und Reichstagsbrandprozeß geführt. Auch das 63seitige Gutachten des damals noch jungen Hans Mommsen – das 1964 diesen Historikerstreit zugunsten der Einzeltäterthese“ entschied – beruhte nur auf äußerst unvollständigen Akten. Um so mehr und erbitterter wurde seinerzeit um die Glaubwürdigkeit von Zeugen gestritten, die führend an den von Göring kontrollierten Ermittlungen beteiligt gewesen waren.
Der Streit um Diffamierungsvorwürfe beschäftigte deutsche Gerichte, und die Auseinandersetzung um angebliche Fälschungen von Sekundärquellen („Breiting-Briefe“) brachte die sachliche Diskussion der Primärquellen zum Erliegen.
Mittlerweile sind die wissenschaftlichen Protagonisten des Streits, der Schweizer Professor Walther Hofer auf der einen, Hans Mommsen auf der anderen Seite, längst emeritiert. Jüngere Wissenschaftler haben sich daran gemacht, die seit dem Fall der Mauer zugänglichen Akten aus DDR-Archiven, die sich zuvor in Moskau befanden, zu sichten. Dabei haben der Historiker Alexander Bahar sowie der Pysiker und Psychologe Wilfried Kugel eine Reihe von Dokumenten entdeckt, die das berühmt gewordene Gutachten Mommsens in einem zweifelhaften Licht erscheinen lassen.
Zwar existiert bis heute keine regelrechte Beweiskette, mit der belegt werden könnte, auf welche Weise ein Trupp von SA- Brandstiftern den Holländer Marinus van der Lubbe als Provokateur benutzt haben kann. Zu unvollständig, einseitig und manipuliert hat die Polizei damals die Ermittlungen geführt. Doch nachdem Bahar und Kugel 50.000 Seiten Originalakten von Reichsgericht, Reichsanwalt und Gestapo ausgewertet haben, läßt sich Mommens apodiktische Feststellung kaum noch halten, „daß eine nationalsozialistische Mitwirkung an der Brandstiftung van der Lubbes auszuschließen ist“.
An der Durchsetzung der Alleintäterthese war maßgeblich der Spiegel beteiligt. Mit der Rolle, die alte NS-Seilschaften in Augsteins Nachrichtenmagazin bis in die sechziger Jahre hinein spielten, hat sich die taz schon einmal vor einem Jahr in einem Beitrag des Medienwissenschaftlers Lutz Hachmeister beschäftigt (taz v. 17.1. 97). Im taz mag der kommenden Woche werden die Autoren Bahar und Kugel dieses Thema wieder aufnehmen: Wie kam die Alleintäterthese in die Spiegel-Welt? Michael Rediske
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