Das verdrängte Massaker von Kortelisy

■ Erst jetzt wurde ein 1942 verübtes Massaker einer Nürnberger Polizeikompanie in der Ukraine bekannt. Ermittlungen wurden eingestellt

Nürnberg (taz) – „Sie töten uns, sie töten uns!“ Schreie des Entsetzens hallten durch das Dorf Kortelisy in der Ukraine. Es war der 23. September 1942, ein Mittwoch, als die Reserve-Polizei-Kompanie „Nürnberg“ 2.875 Einwohner, darunter 1.624 Kinder, ermordete und das Dorf in Brand steckte. Das Verfahren über dieses Massaker wurde am 6. April 1972 klammheimlich eingestellt. Erst jetzt kam die Geschichte durch Recherchen des Nürnberger Journalisten Jim Tobias wieder ans Tageslicht. Nach der Affäre um den Rüstungsindustriellen und KZ-Profiteur Karl Diehl wird Nürnberg damit erneut von einem Stück verdrängter Vergangenheit eingeholt.

„Beim Namen Nürnberg denkt in Kortelisy heute noch jedes Kind an den schwarzen Mittwoch“, erfuhr der 44jährige Tobias, als er die kleine Ortschaft südöstlich von Brest-Litowsk aufsuchte. Zuvor hatte er im Archiv der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg den Einsatzbefehl für die Polizeieinheit entdeckt: „KP Nürnberg vernichtet die Ortschaft Kortelisy“ heißt es darin am 22. September 1942 in dürren Worten unter der Rubrik „Geheim. Einsatzbefehl zur Vernichtung von Ortschaften“.

Der Einsatz war minutiös geplant. „Bis 4.35 Uhr ist die Ortschaft umstellt. Beginn des Unternehmens 5.30 Uhr.“ Bis 16 Uhr dauerte dann das Morden der Kompanie, die ein Jahr zuvor aus aktiven Polizisten der Stadt Nürnberg und älteren Reservisten zusammengestellt worden war. Aufgrund der Herkunft ihrer Mitglieder wurde sie „Reserve-Polizei- Kompanie Nürnberg“ genannt. Sie wurde unter dem Oberbefehl der SS in Brest-Litwosk stationiert und unterstand Major Holling vom Polizeiregiment 15. Wie alle anderen Polizeiregimenter hatte auch dieses in den besetzten Ländern polizeiliche Aufgaben zu erfüllen, wurde aber vor allem zur Bekämpfung von Partisanen eingesetzt. Insgesamt kamen während des Kriegs 40 Polizeiregimenter, fast 300 Polizeibataillone und etwa 200 Schutzmannbataillone zum Einsatz. Die Gesamtstärke der Ordnungspolizei umfaßte im Jahr 1944 etwa dreieinhalb Millionen Mann. Die Gegend um das Dorf Kortelisy galt wegen der Partisanentätigkeit in den Wäldern und Sümpfen als „bandenverseucht“. „Am 23. September 1942 trieb die Polizeieinheit aus Nürnberg die Bewohner aus den Häusern und sperrte sie in Kirchen und Schulen ein“, weiß der heutige Bürgermeister von Kortelisy, Nikolai Andronowitsch Michalewitsch, aus den Berichten, die er in all den Jahren über das Massaker zusammengetragen hatte. Die Menschen mußten Gruben ausheben und wurden dann erschossen. Viele wurden in eine mit Wasser gefüllte Lehmgrube getrieben, ertranken darin oder wurden ebenfalls erschossen.

Agawija Iwanowna Sachatschuk war damals 22 Jahre alt. Sie entging den Mördern, weil sie sich unter einer Kuh hinter Milcheimern versteckt hatte. Sie hörte die Dorfbewohner schreien und die Schüsse peitschen, und später sah sie die blutüberströmten Körper in den Gruben. „Ich fragte mich, warum die Deutschen keine Kugel mehr für mich hatten. Warum geizten sie wegen einer einzigen Patrone?“

Heute ist das Dorf Kortelisy wieder aufgebaut. Es gibt ein kleines Museum mit einer Dauerausstellung über das Massaker, ein Bronzedenkmal erinnert an die Toten. „Viele der überlebenden Polizisten versahen nach dem Krieg ihren Dienst, als wäre nichts gewesen“, betont Tobias. Die örtlichen Stellen waren ihm bei der Recherche wenig behilflich. Die Nürnberger Staatsanwaltschaft verweigerte die Akten, das Polizeipräsidium Mittelfranken beschied, überhaupt keine Unterlagen zu haben. Dennoch stieß Tobias auf ein Ermittlungsverfahren, das die Nürnberger Staatsanwaltschaft Ende der sechziger Jahre gegen 60 namentlich bekannte Mitglieder der Reserve-Polizeikompanie Nürnberg wegen des Massakers in Kortelisy führte. Mangels „hinreichenden Tatverdachts gegen bestimmte ehemalige Angehörige der Res. Pol. Kp Nürnberg“ wurde das Verfahren im April 1972 eingestellt. Der Nürnberger Staatsanwalt Horn lehnte es ab, ein Rechtshilfeersuchen an die sowjetischen Behörden zu richten. Es erscheine „ausgeschlossen, daß eventuell noch lebende russische Augenzeugen nach so langer Zeit in der Lage sind, einzelne Täter zu identifizieren“, argumentierte er. „Keiner war dabei, keiner hat's gesehen und keiner hat geschossen“, faßt Tobias die Aussagen der Polizisten zusammen. Auf die Frage nach willkürlichen Erschießungen sagte ein Kompanie-Angehöriger nicht nur aus, daß ihm „kein solcher Vorfall zu Ohren gekommen“ sei. Er fügte hinzu, daß „die Polizeieinheit bei der einheimischen Bevölkerung gut angesehen“ gewesen wäre. Bernd Siegler