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„Die Extreme finden im Kopf statt“

Im Inneren von Trude: Der Taucher Claus Mayer und seine Arbeit im Riesenbohrer für die vierte Elbtunnelröhre  ■ n Von Heike Haarhoff (Text) und Henning Scholz (Fotos)

Der Förderkorb gleitet in die Tiefe. 18 Meter, ein Knopfdruck, eine Sache von Minuten. Claus Mayer entriegelt die Tür. In Siebenmeilenstiefeln und entsprechendem Tempo stapft er über festgetretenes Erdreich, Holzbalken, Drahtgitter. Hat keinen Blick für den Himmel von Waltershof hoch über ihm, der gleich verschwinden wird. Gleich – das heißt: sobald diese Gruft mit ihren 18 Meter hohen Erdwänden, die der Mann in Thermoweste und Jeans den „Startschacht“nennt, in einen dunklen Baustellen-Tunnel mündet. Durchmesser 14,2 Meter, der Beginn der vierten Elbtunnel-Röhre.

Wahrscheinlich fragt er sich nicht mal, ob es seinen hinterher stolpernden Besuchern von einer großen norddeutschen Bank, die sich „mal ansehen wollen, was wir mit unserem Geld finanzieren“, unheimlich ist zu wissen, daß über ihnen eine neun Meter dicke, tonnenschwere Erdschicht lastet und unweit entfernt die Elbe plätschert. „Helmpflicht, wegen der Sicherheit“, sagt Mayer unbesorgt und ist schon in der Röhre verschwunden.

Sein Weg zur Arbeit führt über ein paar Stufen hinauf auf einen langen, schmalen Steg mit Geländer, der sich wie ein Balkon an die rechte Tunnelwand schmiegt. Claus Mayer ist Berufstaucher. Auch wenn er im Moment nicht so aussieht und nirgendwo im Tunnel Wasser zu finden ist. Nicht mal Taucherbrille und Flossen hat er dabei. Die Beleuchtung im Gang ist spärlich. Links unterhalb des „Balkons“sind Gleise. Baumaterial – halbmondförmige Stahlbetonbausteine für den künftigen Tunnelmantel – rattert auf Loren vorbei. Der Krach ist ohrenbetäubend.

Handwerker mit Checklisten wuseln umher, Claus Mayer drückt Hände. Spricht von Hydroschildern, Schneidrad, Speichen, Diskenmeißeln, Schälmessern und anderen abgenutzten Werkzeugen, die er, der Taucher, ab heute ganz vorn am Bohrkopf der Schildvortriebsmaschine austauschen soll. Dort, wo es keine Atmosphäre mehr gibt. Wo Computer versagen und nur noch Menschen mit Taucheranzug und Atemgerät hinkönnen. Weshalb Mayer später durch Schleusen und Druckkammern muß.

Doch weil es so laut ist, bleiben Mayers kleine technische Einführungen Wortfetzen, die sich mit den „Ah!“und „Oh!“-Rufen der Banker im Schlepptau vermischen: Die staunen über die vier begehbaren Ebenen, miteinander verbunden über verschachtelte Treppen, die sich plötzlich vor ihnen erheben. Computergesteuerte Überwachungsanlagen blinken hinter Plexiglas, und irgendwo in diesem unterirdischen Mikrokosmos aus modernster Technik hängt in einem Glaskasten auf Rosen gebettet die Heilige Barbara, Schutzpatronin aller Bergleute.

Claus Mayer, Typ kettenrauchender Sportler, klettert flink die Treppen hinauf. Hat er etwa vergessen zu erwähnen, daß der Bau-Tunnel an dieser Stelle nahtlos übergeht in „Trude“, die weltgrößte Schildvortriebsmaschine, die sich seit dem Herbst unter der Erde durchfräst? Bis zu zehn Meter legt sie täglich zurück. 60 Meter ist Trude lang, 2600 Tonnen wiegt sie. „Natürlich“, sagt Mayer, sei so eine Riesenbohrmaschine begehbar. „Ach“, amüsiert er sich über die ungläubigen Gesichter neben ihm, „Sie glauben mir auch gar nichts.“

Dann bleibt er stehen. Zeigt auf eine Luke, die aussieht wie ein verfremdetes Waschmaschinenbullauge. „Da.“Die Personenschleuse. Hier beginnt sein Arbeitstag. Hier, heute, Samstagabend, 22 Uhr. Wenn andere Männer seines Alters vor der Glotze dem Aktuellen Sportstudio entgegen fiebern, wird Claus Mayer, 47, in die vierte Röhre gucken.

Trude wird dann stillstehen. Eine ganze Woche lang, ab heute. So lange haben Claus Mayer und die neun Kollegen von seiner Firma „Nordseetaucher“Zeit, Trudes Schneidrad wieder flott zu machen. Wie ein Maulwurf hat sich Trude in den vergangenen Monaten unter der Erde vorwärts bewegt. Sie hat Erdreich weggedrückt, Findlinge zerhäckselt. Jetzt sind ihre 111 Schälmesser und 31 Meißel abgenutzt. Claus Mayer wird die Werkzeuge austauschen, bevor Trude ihre zweite Etappe antritt – die Strecke unter der Elbe her.

Nur ein Taucher, der sich in der Schwerelosigkeit und trotz des ungeheuren Drucks vorn am Schneidrad sicher bewegen kann, ist in der Lage, das zu erledigen. In der Personenschleuse wird sich Claus Mayer heute abend allmählich an den Unterdruck gewöhnen – „durch Schlucken und Nase zuhalten, wie im Flugzeug“. Er wird sich in seinen schwarzen Taucheranzug zwängen, die herauswachsende Dauerwelle unter dem Off-shore-Helm mit Funkverbindung, Atemgerät und Lampe verstauen und statt Flossen Bleischuhe anziehen, 25 Kilo schwer. „Ansonsten würde man nur schweben.“

Dann wird er die Personenschleuse durch den Hinterausgang verlassen, über eine der fünf begehbaren Speichen des Schneidrads balancieren und im schummrigen Licht die 50 bis 60 Kilo schweren Werkzeugteile abmontieren. „Kraft? Vor 15, 20 Jahren war Tauchen noch Knochenarbeit. Heute gibt's Kettenzüge.“

80 Zentimeter breit ist die Kluft zwischen dem Schneidrad und der Tunnelwand, bis zu der sich Trude schon vorgegraben hat. Wenn der Taucher ganz oben auf der Speiche steht, fällt sein Blick 14 Meter tief – in eine eklig anmutende Suppe aus Bentonit, eine dickflüssige, tonartige Brühe, die dichter ist als Wasser und dafür sorgt, daß der Gang, den Trude gegraben hat, nicht gleich wieder einkracht oder von Grundwasser geflutet wird.

Was, wenn doch mal ein Werkzeug hinabfällt? Dann heißt es Eintauchen ins Bentonit. „Taucher müssen nicht sehen, sondern tasten können“, stellt Mayer klar. Die Kollegen, die trotzdem „Orientierungsschwierigkeiten im schwarzen Wasser haben, werden schnell ausgemustert“. Hat er denn nie Panik? Daß das Atemgerät versagt, die Funkverbindung nach draußen abgeschnitten wird? Claus Mayer guckt, als habe man ihn gefragt, ob er sich vor Rotkäppchen und dem bösen Wolf grusele. „Die Extreme“, sagt er, „finden im Kopf statt“.

Höchstens vier Stunden darf sich der Taucher aus Gesundheitsgründen vor dem Bohrkopf aufhalten. Zwei Stunden dauert es anschließend, in der Schleuse den Druck zu dekomprimieren. Aber was sind zwei Stunden? 1986, als er Weltmeister im Arbeits-Tieftauchen wurde, war Mayer zu Forschungszwecken eine Woche lang in 600 Meter Tiefe im Schwimmbecken des GKSS-Forschungszentrums in Geesthacht beschäftigt und anschließend fünf Wochen mit dem Wiederauftauchen. „Da gibt's dann schon psychologische Tests.“

Diesmal erntet er verwirrte Blicke. „Es ist nicht die Tiefe, es ist die Technik“, sucht er sich zu erklären. Zu gucken, was „machbar“ist, technisch machbar.

Der Reiz der Tiefe, das war früher. 1974 vielleicht, als das Kreiswehrersatzamt, dem gegenüber der gebürtige Essener und technische Bundesbahn-Assistent Claus Mayer den Dienst an der Waffe verweigert hatte, den damals 23jährigen aus „so 'ner Gehässigkeit heraus“aus dem Ruhrgebiet nach Helgoland versetzte: in ein Krankenhaus, in dem Mayer Ersatzdienst leistete. Weil die Nordseeinsel außer Tauchen keine sportliche Herausforderung zu bieten hatte, „bin ich zufällig an die Kiste geraten“.

Heute gilt für Claus Mayer: „Geht nicht gibt's nicht“. Die Grenzen der Technik herausfordern und dann doch gewinnen, irgendsowas muß es sein. Deswegen wird Mayer, wenn Trude Mitte nächsten Jahres am nördlichen Elbrand wieder das Tageslicht erblicken wird, sich fühlen, „als hättest du eine Olympia-Medaille gewonnen“.

Das war bislang jedes Mal so – egal, ob Claus Mayer in der Nordsee tauchte, damit das norwegische Energieunternehmen Statoil Öl-Plattformen bauen und die Euro-Pipeline allen ökologischen Warnrufen zum Trotz quer durchs Wattenmeer verlegen konnte, oder ob im Atomkraftwerk Brokdorf Schweißnähte unter Wasser mit Platten zugedeckt werden mußten. Und jetzt eben die umstrittene vierte Elbtunnelröhre: „In jedem Fall wird es hinterher eine sehr große Erleichterung geben“, sagt Mayer, und es klingt nicht wie eine Rechtfertigung.

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