: Wer Schritte hinter sich nicht hört...
Die Trainerin kam eigens aus Amsterdam: Hörbehinderte Frauen lernten bei ihr, sich selbst verteidigen zu können ■ Aus Berlin Kerstin Marx
Entschuldigung, wie spät ist es?“ – „Bitte, haben Sie eine Uhr?“ Zweimal, dreimal wiederholt der Mann die höfliche Frage, doch die Fußgängerin zeigt keine Reaktion. Unbeirrt läuft sie vor ihm her – bis der Frager die vermeintlich Arrogante mit einem leichten Schubs zur Seite drängt. „Blöde Ziege“, zischt er ihr ins Ohr, sein zorniges Gesicht begegnet einem erschrockenen Blick.
Eine alltägliche Begegnung, die für schwerhörige und gehörlose Frauen Realität sein kann: Wie angemessen reagieren, wenn frau nur wenig oder gar nichts verstanden hat? Wie mit Aggressionen umgehen, wenn andere nichts von der eigenen „unsichtbaren Behinderung“ wissen?
„Die Ernsthaftigkeit einer bedrohlichen Situation ist vielen Frauen nicht gleich bewußt, wenn sie angemacht werden und die akustischen Signale zum Teil oder vollständig fehlen“, erklärt Malousch Köhler, vom holländischen Staat anerkannte „Trainerin für feministische Selbstverteidigung“. Sie selbst ist „Hörende“, hat sich jedoch auf gehörlose Frauen spezialisiert.
Malousch reiste im Februar eigens aus Amsterdam an, um in Berlin ein außergewöhnliches Seminar abzuhalten. Die Teilnehmerinnen: vierzehn gehörlose, schwerhörige und ertaubte Frauen. Sie sind zwischen 23 und 48 Jahre alt und aus ganz Deutschland angereist. „Leider sind solche Veranstaltungen trotz der großen Nachfrage selten“, bedauern Bettina Herrmann und Sylvia Sorg, Mitorganisatorinnen von der „Bundesarbeitsgemeinschaft Hörbehinderter StudentInnen und AbsolventInnen“.
„Ja, nicht vergessen: Ausatmen, schreien! Das hilft...“ Im Trainingsraum purzeln Malouschs Worte im Stakkato, sie scheinen lediglich zu übersetzen und zu unterstreichen, was sie den Frauen mit fliegenden Händen, mit bewegter Mimik, mit dem ganzen Körper erklärt. Die Trainerin liebt es, sich auf diese Weise auszudrücken – „nicht nur mit dem Mund“.
Dabei hat Malousch die Gebärdensprache selbst erst 1988 gelernt. Obwohl sie sich darin sowohl auf holländisch als auch auf deutsch verständigen kann, benutzt sie beim Seminar noch eine andere Sprache: Ihre Hände formen lautsprachbegleitende Gebärden (LBG). Im Gegensatz zur sehr komplexen Deutschen Gebärdensprache (DGS) illustriert sie strenggenommen nur, was ihre Stimme mit kurzen knappen Worten sagt. Vor allem Schwerhörige kommunizieren so.
„Paß auf, was um dich herum passiert“, schärft Malousch der jungen Frau ein, die jetzt durch ein Spalier von Teilnehmerinnen läuft, bevor eine sie von hinten bedrängt. Als sich die Angegriffene umdreht und mit spitzem Schrei und Ellenbogen zur Wehr setzt, ist der Jubel groß: Zwölf Arme fliegen nach oben, zwölf Handgelenke drehen sich wie Fähnchen im Wind. So applaudieren diejenigen, für die das Klatschen von Händen keine oder nur geringe Wirkung hat.
Gezielte Tritte, schnelle Stöße, befreiende Griffe: In Berlin haben die fünf gehörlosen und neun schwerhörigen Frauen ein Repertoire an einfachen Techniken gelernt, um sich im Notfall wehren zu können. Trotzdem kann frau einem Angreifer jedoch schon durch Selbstbewußtsein klare Grenzen zeigen, erklärt Malousch: „Eine selbstsichere Körperhaltung, ein gerader Blick und eine ruhige Stimme signalisieren sehr deutlich: ,Hör auf, du bist mir zu nah!‘“.
Die meisten der Frauen sind körperlich noch nie angegriffen worden. Doch daß sie als Frau und als Gehörlose angegriffen werden könnten, verstärkt ihre Unsicherheit: Schritte, die ihnen im Dunkeln folgen, hören sie nicht. Und auch die Stimmen, die in der U- Bahn anzügliche Bemerkungen machen, nehmen sie nicht wahr. Die gehörlose Susanne sagt zum Abschluß: „Die drei Tage haben mir neues Selbstbewußtsein gegeben.“
An diesem Wochenende gibt es immer wieder Lob für die seltene Harmonie zwischen den gehörlosen und den schwerhörigen Frauen, und zwar von beiden Seiten. Denn üblich, erklärt Bettina Herrmann, sei die friedliche Stimmung nicht: „Unter dem Motto ,Je mehr du hörst, desto besser bist du‘ ist das Verhältnis untereinander oft von Konkurrenz und Diskriminierung geprägt.“
Sylvia nickt – Kommunikationsschwierigkeiten seien schon durch die unterschiedliche Sprachen bedingt: „Man kann nicht davon ausgehen, daß alle Schwerhörigen die Gebärdensprache beherrschen.“ Und auch, daß oft vorausgesetzt werde, daß Gehörlose von den Lippen ablesen, sei „einfach Quatsch“, meint Sylvia.
Für die gehörlosen Frauen übersetzt Dolmetscherin Joanna Martin deswegen in die Gebärdensprache, was Malousch Köhler mit lautsprachbegleitenden Gebärden und durch ihre Stimme sagt. Da sich die hörende Trainerin in der Gehörlosenwelt auskennt, kann sie ihr Wissen während des Trainings auch auf inhaltlicher Ebene umsetzen: „Malousch weiß, daß unsere Wahrnehmung visuell abläuft“, erklärt Susanne, „ich muß nicht in jeder Situation mit der Stimme reagieren.“
Wie die anderen gehörlosen Frauen kann Susanne ihre eigene Stimme nicht hören, und oft benutzt sie sie auch lieber nicht. Trotzdem haben alle sprechen gelernt: Die in der Welt der Hörenden immer noch gängige Bezeichnung „Taubstumme“ ist nicht nur falsch, sondern wird von den meisten Gehörlosen auch als beleidigend empfunden.
Malousch hat es schon erlebt, daß in ihren Kursen hörbehinderte Teilnehmerinnen zum ersten Mal in ihren Leben die eigene Stimme hören. Auch in Berlin fordert sie eine lautstarke Abschlußübung. „Hör auf, hör auf – hör auf!“ Die Worte schallen und schneiden durch den Raum – erst gesprochen, dann geschrien, schließlich fast gebrüllt. Und zwar von allen. Wer die Worte selbst jetzt nicht hören kann, der sieht sie: energische Gesten, Schritte nach vorn, blitzende Blicke.
Als Malousch schließlich das Zeichen zum Abbruch gibt, weicht die Konzentration der Entspannung. „Das war klasse“, signalisieren die emporgestreckten Daumen der Trainerin. Damit einher geht ein Wunsch: „Eigentlich hoffe ich“, so die Amsterdamerin, „daß ihr die ganzen Schläge, Tritte und Hiebe nie anwenden müßt.“
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