Anfang vom Ende der Selbstreinigung

■ Italiens Mitte-links-Regierung zieht einen juristischen Schlußstrich unter Korruptionsermittlungen gegen die eigenen Leute

Rom (taz) – Die Auguren atmen auf. Italiens Mitte-links-Regierung – angetreten als Partei der Saubermänner – hat das Schlupfloch gefunden, um die Granden der „Ersten Republik“ aus den justiziellen Unbillen des Korruptionssumpfes herauszuholen. Die Ende letzter Woche ergangene Aufhebung der Verurteilung des ehemaligen Ministerpräsidenten und seinerzeitigen Chefs der Sozialistischen Partei, Bettino Craxi, zu acht Jahren Haft, ist die Konsequenz einer vor einem halben Jahr durchgezogenen Novellierung des Artikels 513 des Strafverfahrensgesetzes. Craxis Entlastung ist der Anfang vom Ende der vor sechs Jahren begonnenen Selbstreinigung: Nacheinander werden nun wohl sämtliche bisher gefällten Urteile in Sachen Korruption (und ganz nebenbei auch in Sachen Mafia) anulliert und an die unteren Instanzen zurückverwiesen. Dort jedoch werden sie dann nicht mehr neu verhandelt, denn die Fälle werden bis dahin verjährt sein.

Der Trick ist einfach: Die Änderung des Strafverfahrensgesetzes legte fest, daß Erklärungen und Geständnisse vor dem Staatsanwalt nur dann vor Gericht Bestand haben, wenn die Aussagenden dies auch während des Prozesses bestätigen. Der Oberste Gerichtshof hat diese neue Norm auch für rückwirkend bindend erklärt. Daher müssen nun die meisten Prozesse wiederholt werden. In vielen Fällen auch nur deshalb, weil das Gericht unter Einverständnis von Verteidigung und Staatsanwaltschaft auf die Zeugenvernehmung verzichtet und die protokollierten Ausagen damit als wahr unterstellt hatte. In anderen Fällen sind Zeugen, die den Prozeß auslösten, verstorben und können daher nicht mehr aussagen. Und mancher, auf den es ankommt und der noch lebt, kann sich nun ausrechnen, was mit ihm geschieht, wenn er vor Gericht bei seiner Aussage bleibt. Was an sich eine pure rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit sein sollte – daß der Angeklagte seinem Belastungszeugen im Gerichtssaal gegenübertreten kann – ist in einem Land, wo in den letzten zehn Jahre mehr als 300 Belastungszeugen oder deren Verwandte ermordet wurden, höchst problematisch.

Die neue Regel eröffnet den goldenen Rückzug. Man braucht seine Geständnisse gar nicht mehr zu widerrufen, man bleibt lediglich dem Prozeß fern. Und der Angeklagte kommt frei, denn bei durchschnittlicher Dauer eines normalen Verfahrens von acht Jahren führt jede nun leicht mögliche Rückverweisung durch das höchste an das niedrigste Gericht letztlich zur Verjährung.

Daß die Mitte-links-Regierung seit Amtsantritt auf eine „kalte“ Amnestie hinarbeiten würde, hatte so mancher Beobachter geargwöhnt: Nicht wenige derer, die nun an den Hebeln der Macht sitzen, haben selbst Ermittlungsverfahren am Hals. Die Konsequenzen dieser Politik sind für die zivile Ethik der Italiener katastrophal. Nach einer Blitzumfrage eines Meinungsforschungsinstitutes erklärten mehr als 40 Prozent der Befragten, sich nunmehr „durchaus zu einem Rechtsbruch entschließen zu können, wenn es mir nützt.“

Kläglich versuchen die Koalitionsspitzen, den angerichteten Schaden zu begrenzen. Parlamentspräsident Luciano Violante (PDS) forderte am Wochenende, daß das Parlament schnell den novellierten Artikel erneut novelliert und seine rückwirkende Anwendung untersagt. Doch die meisten Bürger trauen dem einst als untadelig geltenden Violante auch nicht mehr über den Weg: War er doch vor einem Jahr der erste hochrangige Amtsträger der Republik, der laut darüber nachgedacht hatte, ob man die Delikte der Schmiergeldrepublik „nicht alsbald mit Hilfe einer Amnestie beenden“ sollte. Werner Raith