piwik no script img

Ein unheimlich leichter Abgang

Daß der inhaftierte Kinderschänder Marc Dutroux ein paar Stunden lang einfach so der Polizei davonlaufen konnte, hat ganz Belgien einen Schock versetzt  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Die ganze Nacht lang suchten belgische Politiker nach Worten: das „Undenkbare“ sei passiert, das „Unvorstellbare“, der „Alptraum“. Andere nahmen Zuflucht in der belgischen Kulturtradition, der Surrealismus habe das Land eingeholt. Der fassungslose Vater eines der von Marc Dutroux ermordeten Mädchen sprach nur noch von der „totalen Folklore“.

Daß ausgerechnet der schlimmste Kriminelle des Landes, der Staatsfeind Nr. 1, der Kinderschänder Dutroux, aus dem Justizpalast von Neufchateau ausbrechen konnte, hat dem Land einen schweren Schock versetzt. „Ich schäme mich für mein Land“, war gestern einer der meistgehörten Sätze in Belgien. „Hört das denn nie auf?“ Zwar wurde Dutroux vier Stunden nach seiner Flucht in einem Waldstück gefaßt, zwar sind zwei Minister sofort zurückgetreten, doch abgeschlossen ist die Affäre damit noch lange nicht. Eine erdrückende Stimmung lastet über dem Land. Der unerträgliche Leichtsinn im Umgang mit Dutroux hat eine quälende Erkenntnis gebracht: Polizei und Justiz haben aus der ganzen Geschichte nichts gelernt.

Seit 20 Monaten erfahren die Belgier häppchenweise, daß sie südlich von Palermo leben. Seit im August 1996 im Keller von Dutroux zwei vermißte Mädchen lebend, aber schwer mißhandelt gefunden wurden, seit vier Kinderleichen in den Gärten und Hinterhöfen seiner zahlreichen Anwesen ausgegraben wurden, haben Staatsanwälte und Untersuchungsausschüsse immer neue bittere Wahrheiten zutage gefördert. Monatelang hatte Dutroux die vermißten Mädchen gefangengehalten und für Pornofilme mißbraucht. Und obwohl die Gendarmerie den einschlägig vorbestraften Dutroux von Anfang an in Verdacht hatte, wurde nie entschlossen gegen ihn ermittelt.

Der parlamentarische Untersuchungsausschuß bestätigte die Befürchtungen, daß Dutroux und seine Bande sich so sicher fühlen konnten, weil sie Freunde in der Polizei hatten. Dutroux war als V-Mann im Autoschiebermilieu eingesetzt, obwohl er selbst mit gestohlenen Autos handelte. Es war die Mischung aus vielen gleichgültigen und einigen korrupten Beamten, stellte der Untersuchungsausschuß fest, die die Mädchen vermutlich das Leben gekostet hat.

Doch nichts ist passiert. Die versprochene Polizeireform wurde bis zur Sinnlosigkeit verwässert, weil Provinzfürsten um ihre Macht fürchteten. Keiner der Beamten wurde je zur Rechenschaft gezogen.

Wie wenig mit bloßen Appellen an die Polizei getan ist, hat der Ausbruch von Dutroux gezeigt: Statt Akten ins Gefängnis zu bringen, wurde Dutroux täglich in den Justizpalast gebracht. Die beiden Beamten hatten ihm nicht einmal Handschellen angelegt, ihre Dienstwaffen waren nicht geladen, und einer ließ sich sogar von Dutroux wegschicken. Ein unheimlich leichter Abgang.

Die erste Reaktion vieler Belgier war: Sie haben ihn laufenlassen, um ihn auf der Flucht zu erschießen. Denn noch immer halten sich die Spekulationen, daß Dutroux von Politikern beschützt wurde. Wenn es so war, dann müssen sie Angst vor dem Prozeß haben – Angst, daß Dutroux auspacken könnte.

Die Wahrheit ist vermutlich simpler: Die belgische Polizei ist schlecht organisiert, die allseits bekannten Machtkämpfe der Chefs lähmen die Arbeit. In diesem Klima der allgemeinen Verantwortungslosigkeit vergaßen zwei Beamte, wer Marc Dutroux ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen