: Angriff ist die beste Verteidigung
■ Zwei Tage vor Beginn der Fußball-WM ist ein Ende des Pilotenstreiks bei der Air France nicht in Sicht. Während im Ausland über die "Geiselnahme der WM" geschimpft wird, bleiben die Franzosen gelassen. Au
Angriff ist die beste Verteidigung
Freier Flug für Fußballfans: Wer eine Eintrittskarte für eines der zehn französischen WM-Stadien nachweisen kann, soll auch seinen gebuchten Platz in einer Air- France-Maschine bekommen. Das erklärte gestern der Sprecher der größten französischen Pilotengewerkschaft SNPL, Christian Paris, nach der jüngsten gescheiterten Verhandlungsrunde mit der Unternehmensleitung.
Mit diesem Vorschlag zum gestrigen achten Tag ihres Streiks versuchten die Piloten ihre Aktion von dem Vorwurf des WM-Boykotts zu befreien. Das war nicht dumm. Die Unternehmensleitung verstand und reagierte umgehend. „Wir werden die Sache prüfen“, ließ Air-France-Chef Jean-Cyril Spinetta entgegnen.
Doch der öffentliche Austausch taktischer Erklärungen blieb bis gestern die einzige größere Bewegung im französischen Luftverkehr, während 75 Prozent der mit überdimensionierten Fußballern aus aller Welt bemalten Maschinen des „offiziellen WM-Transporteurs“ weiterhin am Boden blieben. Nicht einmal eine neue Verhandlungsrunde war gestern anberaumt. Indes hat sich die Pilotengewerkschaft SNPL gestern nach über einer Woche Streik wie schon zuvor zur Einsetzung eines Schlichters bereit gezeigt. „Es sieht so aus, als ob eine Lösung von außen die letzte Chance ist“, sagte SNPL-Sprecher Paris gestern im französischen Fernsehen.
Streikende und Unternehmensleitung haben sich in ihren Positionen eingebunkert. Die Piloten einerseits wollen eine einheitliche Tarifstruktur auf hoher Ebene und keine Lohneinbußen gegen Aktienausgabe. Air France andererseits ist inzwischen zwar bereit, wieder zu einer einheitlichen Tarifstruktur zurückzukehren, will dies aber nur auf einer niedrigeren Lohnebene tun. Gestern überlegte die Unternehmensleitung sogar – und das war eine Verschärfung des Konfliktes –, den bislang angebotenen Aktienausgleich zurückzuziehen. Alles weitere wollte sie bei einer kurzfristig anberaumten außerordentlichen Sitzung des Verwaltungsrates Mitte der Woche besprechen.
Zwei Tage vor dem Beginn der Weltmeisterschaft zeichnet sich damit in Frankreich ein Fußballspektakel mit Streikmusik ab. Neben den Piloten beharrten gestern auch die Lokomotivfahrer auf ihrem Streikrecht zum WM-Beginn. Aber während die meisten angelsächsischen und europäischen KorrespondentInnen in Paris angesichts dieses Szenarios „Skandal!“ schreien, über die „Geiselnahme der WM“ schimpfen und Lektionen darüber erteilen wollen, wie die französische Regierung den Streik zu brechen habe, nimmt's die französische Öffentlichkeit gelassen hin.
Vorneweg Premierminister Lionel Jospin. Der stellte am Wochenende klar, daß die WM sehr wohl ohne Air France stattfinden könne. „Franzosen und Europäer“ brauchten nicht unbedingt zu fliegen, und die übrigen ZuschauerInnen könnten auf andere Fluggesellschaften ausweichen, um zu den Spielen zu kommen, sagte er, bevor er drohend darauf hinwies, daß es statt um die WM um die Zukunft des Unternehmens Air France gehe.
Die beinharte Erklärung von Innenminister Jean-Pierre Chevènement aus der vergangenen Woche, er „schäme sich beinahe“ für den Streik der Piloten, ist inzwischen beinahe in Vergessenheit geraten. An seiner Stelle haben in den letzten Tagen kommunistische Regierungsmitglieder „Verständnis“ für die Streikenden und ihre Ziele geäußert. Eine Gegenbewegung von FußballfreundInnen hat es bislang nicht gegeben. Eine von den Medien groß angekündigte Gegendemonstration von Air-France-NutzerInnen geriet zum Flop. Und selbst die nichtstreikende Belegschaft des Flugunternehmens, die sich angesichts von rund 100 Millionen Francs (ca. 29 Millionen Mark) Verlusten für Air France pro Streiktag zwar Sorgen um die Zukunft ihres Arbeitsplatzes macht, hat bislang nicht zu direkten Aktionen gegen die Piloten gegriffen.
WM hin oder her – der Pilotenstreik spielt in der französischen Öffentlichkeit keine größere Rolle als andere vorausgegangene Streikbewegungen zuvor. Er ist allenfalls etwas weniger populär. Aber das hat, wie französische SoziologInnen erklären, durchaus andere Gründe als die WM. Vor allem jenen, daß die Piloten vor allem ihr eigenes, ständisches Interesse verteidigen und keinen „Stellvertreterstreik“ wie andere MitarbeiterInnen des öffentlichen Dienstes führen.
Eine Meinungsumfrage im Auftrag der Wochenzeitung Journal de Dimanche ergab, daß 38 Prozent der Franzosen und Französinnen den Pilotenstreik gutheißen oder „mit Sympathie verfolgen“ – im Gegensatz zu 70 Prozent bei der Bewegung der Arbeitslosen am Jahresanfang und 54 Prozent bei der großen Streikbewegung im Winter 1995.
Kurioserweise ist die Sympathie für den Pilotenstreik um so größer, je niedriger das Lohnniveau der Befragten ist. „Als wenn die am meisten Benachteiligten sich sagen würden: Wenn man es sogar wagt, die Gehälter der Piloten zu kürzen – was mag uns dann Schlimmes erwarten?“, versucht der Demoskop Stephane Rozes dieses Ergebnis zu erklären.
Für die Fußballmannschaften hat der Streik bei Air France ohnehin keine direkte Auswirkung. Sie werden mit Chartermaschinen oder auf dem Landweg in die Stadien transportiert. Auch die SchlachtenbummlerInnen, wenn sie denn einmal den Weg nach Frankreich gefunden haben, werden von dem Streik wenig in Mitleidenschaft gezogen. Denn ihre Bewegungen zwischen den zehn über das ganze Land verteilten Stadien ist vor allem in Bussen, Autos und Zügen geplant.
Die Vermischung von Fußball und Streik findet denn vor allem in den Köpfen der Fußballorganisatoren und bei den streikunerfahrenen Beobachtern im Ausland statt. In den französichen Titeln spielen Fußball und Luftfahrt weiterhin eine klar getrennte Rolle.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen