piwik no script img

Sauerkraut in Handtaschen

Es war das Jahr der Trockenmöhren und der nächtlichen Friseurgänge – 1948. Vor fünfzig Jahren startete die Luftbrücke für Westberlin. Erinnerungen der Spandauerin Luzie Klauck, notiert  ■ von Reinhard Krause

In der Früh kam ich vom Spätdienst nach Hause, wo Horsts Mutter schon auf mich wartete. „Du, Luzie“, empfing sie mich, „unten an der Havel hat ein Schiff mit Kohlen angelegt!“ Also machten wir uns mit dem Bollerwagen auf den Weg, Kohlen abstauben. Es war noch ganz früh am Morgen, kein Mensch auf der Straße, und der Bollerwagen machte auf dem Katzenkopfpflaster ein dermaßenes Getöse, daß wir fürchteten, ganz Spandau aufzuwecken. Irgendwann verfielen wir auf die Idee, den Bollerwagen bis zur Havel zu tragen. Wir haben uns köstlich amüsiert, aber es war natürlich auch anstrengend.

Ich sollte dann, so zumindest hatte sich das meine zukünftige Schwiegermutter gedacht, die Schiffer becircen, daß sie uns ein paar Kohlen schenken. Die Ausbeute war allerdings dürftig. Trotzdem: Zurück haben wir den Wagen gezogen! Das war um den Jahreswechsel 1948/49, im Winter der Berlinblockade und der Luftbrücke. Alles, ob Nahrungsmittel oder Kohlen, mußte per Flugzeug gebracht werden.

Am 9.Mai 1948 war ich nach Berlin gekommen. Es war ein heißer Frühsommertag, viel zu heiß für mein Kostüm. Das war ein umgearbeiteter Anzug meines Vaters, bei der Jacke hatte ich die Knöpfe auf die andere Seite genäht. Darunter trug ich einen Pullover und Kniestrümpfe, aus dem Garn von Zuckersäcken gestrickt. Vor Hitze quollen mir fast die Beine aus den Strümpfen. Neben den Berlinerinnen in ihren Sommerkleidern fühlte ich mich reichlich fehl am Platze.

Ich war zwanzig und freute mich auf mein erstes eigenes Zimmer – fern von der Familie und ganz nah bei meinem Freund Horst. Nach der Flucht aus Breslau und drei beengten, kargen Jahren bei meiner Schwester in der Nähe von Bad Schwartau sollte in Berlin nun alles besser werden. Nie wieder Steckrüben!

Horst hatte ich nach Kriegsende kennengelernt, bei einem Tanzabend des britischen Kriegsgefangenenlagers, in dem er interniert war. 1947 wurde er entlassen und ging wieder nach Berlin. Ohne Zuzugsgenehmigung konnte ich nicht mit ihm gehen. Zum Glück ergab sich die Möglichkeit zu einem „Kopftausch“. Nach vier Monaten endloser Formalitäten kam ich über das Durchgangslager Friedland nach Berlin-Spandau.

Horst wohnte bei seiner Familie in der Ulmenstraße. Vis-à-vis fand ich ein Zimmer zur Untermiete. Alles fing gut an: Über Horsts Schwester Inge bekam ich Arbeit bei der Reichsbahn. Die stand unter sowjetischer Kontrolle, und ich landete in der russischen Transportstelle am Gleisdreieck. Unsere Arbeit bestand darin, Tabellen über die Güterzüge zu kontrollieren, die die sowjetische Besatzungszone Richtung Osten verließen. Was der Inhalt der Waggons war, wußten wir allerdings nie: Alles war nach Kennziffern aufgeschlüsselt.

Der Schwarzmarkt stand noch in voller Blüte. Alles, was man meinte, entbehren zu können, versuchte man auf dem Schwarzmarkt oder bei den Bauern im Umland gegen Lebensmittel einzutauschen. Flüchtlinge hatten natürlich kaum etwas zum Tauschen. Ich zum Beispiel brauchte gar nicht erst auf dem Schwarzmarkt zu erscheinen – ich war schon glücklich, wenn ich auf sonstigen Wegen etwas ergattern konnte, das sich noch benutzen ließ. Eine Nachbarin in Bad Schwartau war Lumpensammlerin und steckte mir manchmal Brauchbares zu. Mit diesen Sachen hätte ich auf dem schwarzen Markt natürlich keinen Blumentopf gewinnen können.

Die Währungsreform vom 20.Juni 1948 kam völlig unerwartet. Anders als die Westdeutschen, die vierzig D-Mark erhielten, bekamen die Berliner sechzig D-Mark mit einem aufgestempelten „B“. Dieses Geld besaß nur in den drei Westsektoren Berlins Gültigkeit. Die Sowjets reagierten mit der Blockade Westberlins und der Einführung der Ostwährung. Dadurch wurde das Alltagsleben in Berlin noch komplizierter als ohnehin schon.

Die sowjetisch kontrollierte Reichsbahn stellte ihre Löhne auf Ostgeld um. Sechzig Prozent unserer Gehälter konnten wir bei einer „Lohnausgleichskasse“ eins zu eins in B-Mark umtauschen; mit dem Rest konnte man aber, solange die Blockade lief, in Westberlin noch Mieten und öffentlichen Abgaben bezahlen.

Tag und Nacht flogen amerikanische und englische Bomber mit Hilfslieferungen die Westberliner Militärflughäfen Tempelhof, Gatow und Tegel an. Wir wohnten weit genug entfernt von der Gatower Einflugschneise – von dem Motorenlärm kriegten wir nicht viel mit.

Die Bezeichnung „Rosinenbomber“ kam erst auf, als Bomberpiloten beim Landeanflug auf die Idee kamen, kleine Süßigkeitenpäckchen zu den neugierigen Kindern hinunterzuwerfen. Rosinen waren ein schönes Symbol, in der Berliner Wirklichkeit waren sie ein unerreichbarer Luxus.

Lebensmittel gab es weiter nur auf Bezugsschein, im Westen wie im Osten. Besonders unangenehm war der Umstand, daß es in der Blockadezeit keine frischen Kartoffeln und auch kein Gemüse gab, weil sie sich in getrocknetem Zustand leichter transportieren ließen. Da gab es dieses „Pom“, den Geschmack habe ich noch heute auf der Zunge. Das war ein körniges Stärkepulver aus Kartoffeln – nicht zu vergleichen mit heutigem Kartoffelpürree. Auf Zuteilung gab es auch Trockengemüse. Vor allem die berüchtigten Trockenmöhren wurden nie weich, egal wie lange man sie kochte. Die konnte man fast nicht essen, die schmeckten ruff wie runter.

Mitten in Berlin wurden auch Kühe gehalten. Gleich um die Ecke bei uns gab es einen Kuhstall mit Verkaufsladen. Die Kühe lebten zwischen den Häusern und wurden mit Heu gefüttert. Eine Milchzuteilung bekam aber nur, wer eine besondere Lebensmittelkarte besaß. Für Horsts Eltern, die an Tuberkulose erkrankt waren, habe ich dort oft Milch geholt. Aus dem gleichen Grund erhielten sie auch ein oder zwei der berühmten Carepakete mit Schmalzfleisch aus der Dose, Mehl, Zucker und Milchpulver.

Kohle gab es nur auf Bezugsschein, aber in so geringen Mengen, daß man die Kachelöfen kaum warmbekam. Auch Strom war rationiert. Ausgerechnet in der Nacht gab es ein paar Stunden lang Strom – also ging man nachts zum Frisör! Dann passierte ein Wunder: Plötzlich hatte ich rund um die Uhr Strom. Horsts Familie auf der anderen Straßenseite bekam nach wie vor nur rationierten Strom.

Die ganze Straßenseite rätselte hinter vorgehaltener Hand, was der Grund dafür sein konnte. Es gab nur eine Erklärung: Irgend jemand hatte bei der Stromzufuhr für das Spandauer Kriegsverbrechergefängnis, in dem Rudolf Heß und Albert Speer einsaßen und das keine dreihundert Meter entfernt an der Gatower Straße lag, einen Fehler gemacht. Natürlich verhielten wir uns mäuschenstill und achteten darauf, nicht auffallend viel Strom zu verbrauchen. Bis zum Ende der Blockade flog die Fehlschaltung nicht auf.

Durch das Nebeneinander der zwei Währungen entstand sehr schnell ein florierender Devisenhandel. Der offizielle Tauschkurs war natürlich niedriger als der Kurs auf dem schwarzen Markt. Überall zischelten die Devisenschieber ihr „Ost gegen West!“, das immer klang wie: „Ssst! Ssst!“

Sofern man im Besitz von Westgeld war und günstig getauscht hatte, konnte man im Osten relativ gut einkaufen. Natürlich keine Lebensmittel, denn die gab es auch im Osten nur auf Bezugsschein. Aber andere Dinge, die nicht über Bezugsscheine liefen. In den HO-Läden etwa gab es schon mal Gardinenstoff oder Tischdecken. Später gab es in Ostberlin sogar Pelzmäntel – die waren zwar nur aus Kaninchenfell, aber wer hätte sich so etwas ohne Schwarzumtausch leisten können?

Da ich in dieser Zeit Ostgeld verdiente, hatte ich auch kein schlechtes Gewissen, mein Geld im Osten auszugeben. Natürlich durfte man sich mit seinen Osteinkäufen nicht erwischen lassen. Meine Stoffe und Decken habe ich mir unter dem Mantel um den Bauch gewickelt und war „schwanger“.

Einmal traf ich im Osten eine Freundin aus dem Westen und wunderte mich die ganze Zeit, warum die ihre Handtasche so merkwürdig umklammert hielt. „Mensch“, sagte ich zu ihr, „was hältst du denn deine Tasche immer so komisch?“ „Na“, kam es zurück, „da hab ich Sauerkraut drin!“

Im Mai 1949 beendeten die Sowjets die Blockade Berlins. Die Luftbrücke wurde allerdings noch Wochen aufrechterhalten. Es dauerte noch einige Zeit, bis die Versorgung der Stadt mit Waren auf dem Land- und Wasserweg gesichert war und es wieder Normales zu essen gab. Mein Verhältnis zu Steckrüben blieb allerdings jahrzehntelang gestört!

Mittlerweile hatten Horst und ich ein Grundstück in Spandau gekauft, auf dem wir in jahrelanger Eigenarbeit ein Einfamilienhaus bauten. Als Baumaterial für den Keller dienten uns die Mauersteine einer Ruine. Jeder Stein mußte erst abgeklopft und dann mit dem Bollerwagen auf unser Grundstück gebracht werden. Und wie das Leben so spielt: Als unser Haus nach fast zehn Jahren stand, war meine Ehe mit Horst gescheitert. Aber den Bollerwagen, den habe ich heute noch.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen