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Salut für die sowjetische Frau

Kleine Stationen an der Strecke, die aus Rußland führte – Einige Biographeme aus dem Leben der beiden Schauspielerinnen Jekaterina Shulman und Irina Losjewa  ■ Von Helmut Höge

Im „Club Dialog“ lasen neulich Jekaterina Shulman und ihr Mann Victor Texte von Achmatowa und Mandelstam. Sie lasen nicht, sondern trugen sie auswendig vor. Beeindruckend! Die 1942 in Kalinin (Twer) geborene Jekaterina unterrichtet derzeit Bühnensprache an der Theaterschule der jüdischen Gemeinde und leitet außerdem in einer Art ABM die Jugendtheatergruppe des „Club“. Dieser nahm heuer erstmalig am Multikulti- Umzug teil – unter dem Motto: „Vorsicht, die Russen kommen.“

Nächtelang nähte Jekaterina sich dafür eine Garderobe. Sie und ihre Tochter hatten 1995 Victor, der damals als Regisseur in Moskau arbeitete, gedrängt, Rußland zu verlassen. Zunächst landeten sie in Schwerin, wo ihre Tochter gerade als Chirurgin festangestellt wurde. „Victor und ich haben dort gemerkt, daß auch wir hier noch was mit unserem Beruf anfangen können. Dies schien uns dann jedoch in Berlin, wo inzwischen 100.000 Russen leben, leichter zu sein als in Schwerin.“ Katja hatte 1966 an der Theaterhochschule „W1 – I. Nemirowitsch-Dantschenko“ beim akademischen Gorki-Künstlertheater in Moskau, wo nach dem „System Stanislawski“ ausgebildet wird, ihr Diplom in Drama und Kino gemacht, ein Jahr zuvor war ihre Tochter geboren worden. Sie arbeitete dann sechs Jahre am Theater in Kalinin, anschließend weitere drei am Stadttheater von Kirow.

Für die Melkerinnen ging's erst ab 22 Uhr

Bei einem Theaterfestival bekam sie eine Prämie (200 Rubel) für die Hauptrolle in einem Märchen. Mit dem Geld reiste ihr Mann nach Jugoslawien: „Zu mehr reichte es nicht!“ Von 1971 bis 78 spielte Katja erneut am Theater von Kalinin – u.a. „Nora“ von Ibsen, über 250mal. „Ich habe sie als eine starke, kämpferische Frau gespielt, die aber nicht weiß wohin! Wir gastierten oft in den Kulturhäusern von Kolchosen. Dort saßen viele Frauen im Publikum. Wegen der Spätschicht der Melkerinnen fingen wir meist erst um 22 Uhr an. Auch diese Frauen konnten sich mit der Nora identifizieren: Sie weinten und lachten. Im Sommer sind wir durch die UdSSR getourt: Ukraine, Moldawien, Baltikum, Sibirien...“

Victor wurde 1978 Intendant des Theaters von Tscheljabinsk 65, einem der geheimen Atomstädtchen, wo dann auch Katja zehn Jahre lang arbeitete. 1983 wurde sie als „Verdiente Schauspielerin des Volkes“ ausgezeichnet. Sie spielte dort u.a. die Anisja in Tolstois „Die Macht der Dunkelheit“ und die Nastasja Filippowna in Dostojewskis „Der Idiot“. Von 1988 bis 1994 war sie am Stadttheater von Rjasan beschäftigt, wo sie zum Beispiel als Rosa Luxemburg in Schatrows „Weiter, weiter, weiter“ auf der Bühne stand. Bis zur Ausreise Ende 1995 arbeitete sie dann noch am „Theaterlaboratorium“ in Moskau. In 33 Jahren spielte sie 150 Rollen. Einen häufigen Ortswechsel, verbunden mit unbequemen Unterkünften, „sind wir ja gewohnt“. Vielleicht ist das mit ein Grund, warum sie – im Gegensatz zu vielen anderen Russen in Berlin – den Neuanfang hier nicht bedauert. „Außerdem waren wir nie reich und mußten uns deswegen nicht erst an so etwas gewöhnen.“

Zusammen mit Victor, als Regisseur, und Eric Losjev, einem Dramaturgen, sowie dessen Frau Irina arbeitet Katja zur Zeit an den Proben zu einer Komödie über die „neuen Russen“ – von Alexander Galin: „Sirena und Victoria“. Dieses Stück soll den Beginn eines russischsprachigen Theaters in Berlin markieren, es fehlt jedoch noch etwas Geld (für Kostüme und Bühnenbild) sowie geeignete Aufführungsräume.

Umgangsformen statt deutschem Streß

Bei den Akquisitionsversuchen kam es zu russisch-deutschen Mißverständnissen: Während die früheren Sowjetbürger die biederen Deutschen zunächst eher durch unkonventionelles Auftreten befremdeten, ist es jetzt oft umgekehrt so, daß man auf russischer Seite Wert auf elaboriert-höfliche Umgangsformen legt, während die durchamerikanisierten Deutschen – immer im „Streß“ – alles von sich fernzuhalten suchen, keine Briefe beantworten, nicht zurückrufen etc. Der jüdischen Gemeinde kommt hierbei eine Ausgleichsfunktion zu. Mit ihr fing in gewisser Weise auch der ganze postsowjetische Strom der Intelligenzija nach Berlin an. Bereits Anfang 1990 hatte es sich in Rußland herumgesprochen: „Deutschland nimmt!“

Gemeint war damit die im Verschwinden begriffene DDR. In Ostberlin meldeten sich die ersten „etwa 70 waghalsigen Touristen und Dienstreisenden“ – womit „der Bruch eines Tabus der Nachkriegsgeschichte eingeleitet war“, so Irene Runge, die damals den jüdischen Kulturverein mitbegründete, der dann – gegen den israelischen und westdeutschen Widerstand – maßgeblich daran beteiligt war, den vor allem jüdischen Russen bei der Suche nach Unterkünften hier zu helfen und ihren Status als „Kontingentflüchtlinge“ abzusichern, u.a. indem man „Präzedenzfälle“ durchsetzte. Dabei half auch das „schlechte Gewissen“ – in beiden deutschen Staaten: Selbst ein Schönbohm würde es nicht wagen, diese Juden wie Bosnier einfach zurück zu „deportieren“. Und so ist es nur natürlich, daß sich auch viele nichtjüdische Russen in und um die jüdischen Gemeindeorganisationen scharrten. Man geht von etwa 10.000 hier lebenden Juden aus – fast alle gehören zur „Intelligenz“ und können „auf eine erfolgreiche soziale Integration (in der Sowjetunion) zurückblicken“. Dies unterscheidet sie von den meisten „Flüchtlingen“. Irene Runge sprach 1994 davon, daß sich etwa 200.000 Menschen „im Rahmen des jüdischen Kontingents auf den Weg in die BRD machen“.

Inzwischen haben die ersten längst angefangen, eine eigene soziokulturelle Infrastruktur aufzubauen, das sich zwischen den jüdischen Gemeindeeinrichtungen und den „Deutschstämmigen- Hilfswerken“ (für Rußlanddeutsche) ausdehnt. Dazu gehören der Club Dialog (gegründet 1988), Restaurants, Zeitungen, Fernsehsender, Buchläden oder das Ost-West- Europäische Frauennetzwerk. Manchmal müssen die Nutzer zwischen „jüdisch“, „sowjetisch“ und „russisch“ lavieren. Etwas „festgelegter“ wirken da all jene Sowjetbürger, die mit einem israelischen Paß – quasi auf dem Umweg über Israel – nach Berlin kommen.

Dies trifft auf Irina Losjewa und ihren Mann Eric zu. Die heute 45jährige Schauspielerin stammt aus Samara. 1975 bewarb sie sich bei G. A. Towstonogow, dem Leiter der Fakultät für Dramatische Kunst an der Theater-, Musik- und Filmhochschule Leningrad. Es gab nur 25 Ausbildungsplätze, auf jeden kamen 400 Bewerber, aber sie schaffte es. 1979 wurde Irinas erste Tochter geboren. Im selben Jahr beendete sie auch ihr Studium: mit einer Diplominszenierung „Brüder und Schwestern“. Gleich darauf wurde sie damit zu zahlreichen Theaterfestspielen eingeladen – auch ins westliche Ausland: „Das war insofern außergewöhnlich, als alle Darsteller ja Studenten waren. Wegen des Eisernen Vorhangs konnten wir die meisten Einladungen natürlich nicht annehmen.“ Danach arbeitete Irina ein Jahr am Jugendtheater in Tomsk und anschließend drei Jahre als Schauspielerin bei „Len-Konzert“ – eine Art Agentur, die mit einem Ensemble, bestehend aus 36 Leuten, ein „Spektakel-Programm“ auf die Beine stellte, das durch die ganze UdSSR tourte: „Wir waren mit einem Flugzeug unterwegs – in allen größeren Städten unserer 15 Republiken“. 1985 wurde ihre zweite Tochter geboren. Anschließend arbeitete Irina bis 1988 als Schauspielerin am Akademischen Theater der Komödie Leningrad.

Auf der Bühne spielte sie u.a. Lady Macbeth, Katerina und Mirandolina, daneben arbeitete sie auch für Film und Fernsehen. Zuletzt hatte sie noch ein einjähriges Engagement am Leningrader Experimentaltheater WOTM. Dort trat sie in einem Stück von Ludmilla Petruschewskaja auf – eine sowjetisch-feministische Bestsellerautorin.

Hauptrollen wie im richtigen Leben

Ferner spielte Irina noch die Alöna in dem Stück „Moskauer Küche“ von Anatoli Kim, einem kasachischen Koreaner, der derzeit in Südkorea lehrt. 1990 wanderten die Losjews nach Israel aus, sie ließen sich in Haifa nieder, wo Irina sich dann an den Proben einer italienischen Komödie beteiligte: „Es war eine moderne Dreiecksgeschichte. Aber aus Geldmangel kamen wir nicht über das Probieren hinaus.“

Ihr Mann Eric versuchte sich derweil als Geschäftsmann, in Leningrad hatte er zuletzt als freier Autor für Literatur- und Theaterzeitschriften gearbeitet. Ende 1992 zog die Familie nach Berlin, wo Irina zunächst in einem der fünf deutschen „KWN-Clubs“ mitmachte. Das ist eine alte sowjetische Einrichtung – von und für Studenten. Es werden dort Stegreifstücke aufgeführt, die man mitunter auch im Fernsehen zeigt.

Von 1993 bis 96 gab es ein jüdisches Theater in Berlin, das drei Stücke aufführte, in denen Irina mitspielte: ein russisches Stück von I. Wedensky „Weihnachten bei den Iwanows“, ein deutsches „Die Froschkönigin“ (basierend auf einem russischen Märchen) und ein jiddisches von Scholem Alechem: „Eine lächerliche Teestube“. Als der Regisseur sich von der Gemeinde trennte und das Theater auflöste, fing Irina wieder an zu jobben. Anfang 1998 begannen die Proben für das Galin-Stück, in dem Irina und Katja – unter der künstlerischen Leitung ihrer beiden Ehemänner – die Hauptrollen spielen (wie im richtigen Leben?).

Daneben gibt es neuerdings auch noch ein jüdisches Theaterprojekt, an dem sich die beiden Frauen beteiligen: im hessischen Bad Sobernheim, wo die jüdischen Gemeinden (beziehungsweise das ZWST) ein Erholungs- und Tagungszentrum betreiben. „Wir haben dort schon ein Symphonieorchester zusammengestellt und jetzt soll noch ein Theater dazukommen – zuerst auf jiddisch und dann auch auf russisch. Die Leitung hat Benjamin Bloch. Aus ganz Deutschland wurden dafür Schauspieler gesammelt.

Jetzt im Juli haben wir uns zum dritten Mal dort zu einem Workshop getroffen, das wurde auch bezahlt.“ Obwohl auch dieses Projekt noch nicht gesichert ist, verfolgen Irina und Katja ihre Theaterkarrieren weiter – sowohl dort als auch hier. Aber erst einmal fahren Katja und Victor Shulman nun in Urlaub – auf eine griechische Insel: „Weil ich ein Gehalt bekomme, können wir uns das jetzt leisten, zum ersten Mal seit acht Jahren.“

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