: Wiedergänger
Was von Mao übrigblieb: Versuch über das Nachleben einiger K-Gruppen-Motive. Verschlungen und kurvenreich lief manches auf Öko hinaus ■ Von Christian Semler
Der Schnee gnädigen Vergessens bedeckt heute die Landschaft, auf der sich in den 70er Jahren die maoistischen „K-Gruppen“ an die Revolutionierung des Proletariats gemacht hatten. Die Protagonisten der damaligen Bewegung, auch der Autor der folgenden Bemerkungen, haben nie daran gedacht, die Geschichte dieses Großversuchs aufzuschreiben. Daran hinderte sie nicht nur der schlechte Ruf der K-Gruppen. Immerhin sollen es nach fast allgemeiner Auffassung sie gewesen sein, die mutwillig eine blühende, vielfältige Bewegung unter die Knute des dogmatischen Konformismus zwangen und die antiautoritären Impulse der Studentenbewegung nach Kräften abtöteten, so daß dem lichten Bild der 60er Jahre das verdüsterte der frühen 70er Jahre gegenübersteht.
Verstärkt wird die Unlust durch die Unmenge überlieferter Druckerzeugnisse: Typoskripte, Zellenprotokolle, Betriebszeitungen, Verlautbarungen aller Ebenen bis hin zu den diversen Zentralorganen. Denn so erfolglos die Organisationsarbeit blieb, so fruchtbar gestaltete sich die Produktion von Papieren. Schließlich und wichtigstens verstehen die Funktionäre von einst kaum mehr ihre damaligen Motive und Handlungen. Der Riß ist zu tief. Um es kurz zu machen: Dem ehemaligen Führungspersonal ist die Geschichte der K- Gruppen zu peinlich, den Bewegungssoziologen zu immobil, den Zeitgeschichtlern zu arm und den Psychologen zu durchsichtig.
Sollten die maoistischen Gruppen in den rund zehn Jahren ihrer Existenz keine „Spur ihrer Erdentage“ hinterlassen haben? Bis in die 90er Jahre, als unter den ehemaligen Genossen das „Wie geht's?“ längst an die Stelle des „Was tun?“ getreten war, herrschte im links-alternativen Milieu die Zwangsvorstellung von geheimen Fraktionszusammenkünften und strategischen Absprachen. Fast überflüssig, darauf hinzuweisen, daß es solches Strippenziehen ehemaliger K-Gruppler gegeben hat. Das wichtigste „postmaoistische“ Organ, die Kommune, eine Gründung der größten maoistischen Gruppe, des Kommunistischen Bunds Westdeutschlands (KBW) unter der Leitung Joscha Schmierers, verzichtete geradezu programmatisch auf jede kollektiv organisierende Funktion. Sie war und ist pluralistisches Diskussionsorgan mit grün-realpolitischer Schlagseite. Und die es zu Amt und Würden brachten, zum Beispiel als ehemalige oder gegenwärtige Senatoren Freier Hansestädte, verdankten ihre Berufung bestimmt nicht der ehemaligen Mitgliedschaft in der Gruppe „Demokratie und Sozialismus“ (einem Spaltprodukt des KBW), sondern ihrer langjährigen Plackerei als grüne Funktionäre.
Nur ein relativ geringer Prozentsatz der K-Gruppler schloß sich den Grün-Alternativen dauerhaft an, aber man kann vermuten, daß ihre große Mehrheit dieser Bewegung Sympathien entgegenbringt. Die meisten Aktivisten der K-Gruppen arbeiteten nach dem Niedergang beziehungsweise der Auflösung ihrer Organisationen hart daran, Zeit wettzumachen, im Berufsleben voranzukommen, Familien zu gründen. Wer als Intellektueller im Betrieb gearbeitet hatte, verließ ihn, von einigen wichtig gewordenen Ausnahmen abgesehen.
Was geschah mit den vielen Azubis und Jungarbeitern? Sie erlagen dem Sog der Intelligenzija, machten Schluß mit ihrer Lohnabhängigenexistenz. Auf der Schiene des zweiten Bildungsweges „verließen sie ihre Klasse“. Dies ist der wichtigste Unterschied zwischen Westdeutschland und den romanischen Ländern, in denen es immer eine Gewerkschaft gab, die die Maoisten unterschlüpfen ließ und ihnen weitere Qualifizierung ermöglichte.
Es wäre nun ein leichtes, einer allgemeinen Verdachtspsychologie zu folgen und überall dort, wo im Milieu der Linksalternativen Glaubenskämpfe, Machtkämpfe oder Intrigen inszeniert werden, den fortdauernden Einfluß der K- Gruppen auszumachen. Aber im allgemeinen funktionierte der bei den Grün-Alternativen diensttuende exkommunistische Funktionär loyal, selbstlos und zuverlässig. Das war schon Angelo Bolaffi, dem italienischen Politologen, aufgefallen, als er nach einem Besuch der Alternativen Liste West-Berlin zu Anfang der 80er Jahre verwundert konstatierte, es sei nur das politische Ethos der ehemaligen KPD-Kader, das den Laden zusammenhalte.
Trotz der Zerstreuung und Vereinzelung der meisten K-Gruppen- Aktivisten gibt es politische Motive, die in der Geschichte der linken Bewegung bis auf den heutigen Tag fortwirken. Man kann sie an den Arbeiten ehemaliger Maoisten ablesen, die heute als Wissenschaftler, Journalisten oder – immer noch – als politische Aktivisten tätig sind. Man kann ihnen bei den immer selteneren Gelegenheiten nachspüren, wo die ehemaligen Kampfgefährten sich versammeln, bei runden Geburtstagen, neuerdings auch schon bei Beerdigungen. Allerdings tut man gut daran, sich diese fortdauernde Wirkung maoistischer Motive nicht geradlinig vorzustellen. Sie ist mit früheren Positionen oft nur dialektisch, das heißt gerade durch den Bruch verbunden. Auch sollte man nicht vergessen, daß es unterhalb der bürokratisch-nachrichtendienstlichen Etikettierung „K-Gruppen“ trotz eines gemeinsamen ideologischen Erbes beträchtliche Unterschiede gab, die eine je eigene Art des Nachlebens begründeten. Nicht von diesen spezifischen Formen soll jetzt die Rede sein, sondern von den gemeinsamen gedanklichen und emotionalen „Stimmungen“, wie sie, gerade unter dem Signum der Niederlage, fortwirkten.
Als erstes wäre der schroffe Antiutopismus der Ex-Maoisten zu nennen, ein direktes Produkt der Ent-Täuschung. Er ist nur verstehbar, wenn in Rechnung gestellt wird, daß die radikale maoistische Linke das China der Kulturrevolution als Garten der Utopie mißverstand. So wurde aus der großen Verschickungsaktion der Studenten in die Provinz die Aufhebung des Unterschieds von Stadt und Land, aus der den Intellektuellen verordneten Arbeit die Aufhebung von Kopf- und Landarbeit, aus der Uniformierung der Geschlechter in der Arbeit wie im täglichen Leben die Aufhebung der patriarchalischen Geschlechtertrennung.
Das Schema der leninistischen Koordinaten – in der Zeit Etappen, im Raum Bündnisse – war den Maoisten fremd. Sie glaubten an die „Aktualität des Kommunismus“, wie eine Kampfschrift der Gruppe Il Manifesto Ende der 60er Jahre betitelt war. Von der chinesischen Utopie wandte man sich ab, als die Kulturrevolution für beendet erklärt wurde und die Fakten der massiven politischen Unterdrückung ans Licht kamen. Im Antiutopismus trafen sich die Ex-Maoisten mit den osteuropäischen Demokraten. Er wurde zur gedanklichen Basis, auf der die „Realpolitik“ ebenso wuchs wie die Bejahung der osteuropäischen Transformationsprozesse zu Markt, Privateigentum und Demokratie.
Der Schrecken vor dem, was Utopien anrichten, wenn sie in die Tat umgesetzt werden, war sicher heilsam. Aber er wurde und wird bezahlt mit der Weigerung, das ganz Andere der kapitalistischen Produktionsweise auch nur zu denken. Gerechtigkeit und Solidarität erscheinen nur noch als regulative Ideen. Gegen diesen Realitätsgewinn, der auf der genauen Benennung der Kosten jeder Reform besteht, wäre überhaupt nichts einzuwenden – wenn, ja wenn die ökonomische Wirklichkeit nicht nach Alternativen riefe.
Eine zweite Erbschaft der K- Gruppen ist ihr linker Antitotalitarismus. Für die Maoisten war es in der Regel kein Problem gewesen, den systemischen Charakter der Unterdrückung im Realsozialismus zu erkennen und anzuprangern, soweit der sowjetische Machtbereich gemeint war. Als ihnen, zu Ende der 70er Jahre, die Strukturmerkmale jedes realsozialistischen Herrschaftssystems klar wurden, trat an die Stelle des Gegensatzes Proletariat gegen Bourgeoisie, also der „Fortführung des Klassenkampfes unter der Diktatur des Proletariats“, der Kampf der Demokraten gegen das totalitäre System. Bestimmt war es ein Verdienst der Ex-Maoisten, mit dem Unterschied zwischen legitimen (sozialistischen) und illegitimen (bürgerlichen) Widerstandsaktionen gegen den Realsozialismus Schluß gemacht zu haben.
Dieser Linie folgte auch die Unterstützung der Solidarnosc in Polen zu Beginn der 80er Jahre. Aber dieser linke Antitotalitarismus lief Gefahr, die sozialen Gegensätze zu verkennen, die sich unterhalb der Linie Demokratie kontra Realsozialismus abzeichneten. „Links“ und „rechts“ blieben eben doch taugliche Kategorien, wenngleich sie im Transformationsprozeß der ehemals realsozialistischen Länder neu gedacht werden mußten.
Zu einer ebenso ungerechtfertigten wie unangenehmen Begleiterscheinung des linken Antitotalitarismus wurde die Tendenz mancher Ex-Maoisten, moralische Superioritätsgefühle zu verbreiten und sich, reichlich spät, in die Pose des Chefanklägers zu werfen. Zu Recht bestanden viele der ehemaligen Maoisten darauf, über die Untaten der SED-Potentaten und ihrer Zuträger kein Gras wachsen zu lassen. Sie vergaßen aber manchmal, daß es nur der Ungunst, besser: der Gunst der Zeitläufte zu danken gewesen war, wenn der Gesellschaft eine reale Probe ihrer eigenen Konzepte erspart geblieben ist.
Eine interessante Metamorphose erfuhr drittens die maoistische „Drei-Welten-Theorie“, wonach die Welt von der Rivalität der zwei Supermächte gekennzeichnet sei, zwischen denen die Dritte Welt einerseits, die Zweite (aus den westlichen und östlichen Industriestaaten) andererseits lagen. Diese Theorie erleichterte es den Maoisten, die Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung zu verstehen und die unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Motive der Akteure auf der „Befreiungsseite“ in Rechnung zu stellen. „Staaten wollen Unabhängigkeit, Nationen wollen Befreiung, die Völker wollen Revolution“ (Tschou En-lai).
„Nationen wollen Befreiung“, die zeitgenössische Version des Leninschen Selbstbestimmungsrechts, hat auch den Ex-Maoisten den Blick auf die Legitimität nationaler Befreiungsbewegungen geöffnet, so im Fall der zerfallenden Sowjetunion und Jugoslawiens. Im Gegensatz zu vielen anderen Linken trauerten sie nicht den untergegangenen imperialen Zwangsgemeinschaften nach. Im bosnisch- herzegowinischen Konflikt befürworteten viele rechtzeitig eine militärische Intervention und die Errichtung eines UNO-Protektorats. Allerdings ließen sie es hier und da an kritischer Distanz auch zu den Opfern der Aggression, den Bosniaken, fehlen.
Der verschlungenen Fortsetzung der „Drei-Welten-Theorie“ entspricht auch die positive Wertung, die viele der ehemaligen K- Gruppler der Europäischen Union als Zusammenschluß von Staaten der „Zweiten Welt“ entgegenbringen. Zuweilen überrascht das Lob der Institutionen, der Verzicht auf Kritik am Übergewicht ökonomischer Lösungen und am demokratischen Defizit. Die Rädchen im Denkprozeß, die die „Haupt-“ mit den „Nebenwidersprüchen“ verbinden, bewegen sich noch in altgewohnter Weise. Viertens und letztens sei ein Blick auf das Nachleben jener Parole gestattet, die wie keine andere die angehenden Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten, Schauspieler und Regisseure dazu bewegte, sich den Maoisten begeistert anzuschließen: „Dem Volke dienen.“ Zwar waren die K- Gruppen schroff aufs Proletariat ausgerichtet, aber insgeheim wucherte in ihrem Gemüt der diffuse Volksbegriff weiter, der seit den Zeiten der russischen Narodniki Intellektuelle dazu mobilisiert hatte, „ihre Klasse zu verraten“ und „unters Volk“ zu gehen. Zwar waren sie von Lenin nachdrücklich über die Grenzen des „tradeunionistischen“ Bewußtseins bei den Arbeitermassen belehrt worden, aber es schien ihnen leicht, diese Schranke niederzureißen – durch Lernprozesse in der kollektiven Aktion. Daher die ungeheuren Erwartungen, die sich in den 70er Jahren an den (kurzlebigen) Erfolg oppositioneller beziehungsweise revolutionärer Listen bei den Betriebsratswahlen in Nordrhein-Westfalen knüpfte.
Dieses „Volkstümlertum“ erwies sich in der grünalternativen Bewegung als dreifach anschlußfähiges Motiv: Es erlaubte den Ex- Maoisten, ihre privatisierte berufliche Existenz an einem allgemeinen ethischen Maßstab zu messen. Es erleichterte – vor allem nach Tschernobyl – ein leveé en masse gegen die atomare Bedrohung unabhängig von den divergierenden materiellen Interessen der möglichen Akteure, und es machte es drittens möglich, die maoistische Kritik an der „volksfeindlichen“ Entwicklung von Technik und Wissenschaft in grüne Projekte einzufädeln. Oft genug schimmert noch in der Kritik der Apparatemedizin, im Entwurf einer fußgänger- und radfahrerfreundlichen Verkehrspolitik, in den Projekten alternativer Energiegewinnung das alte maoistische Motiv des „Kampfs gegen die reaktionäre Theorie der Produktivkräfte“ durch.
Entgegen dem ersten Blick ist es nicht der Katastrophismus gewesen, die Gleichsetzung der ökologischen Krise mit der Systemkrise des Kapitalismus, der maoistisches und ökologisches Denken näherrückte. Wie wir sahen, war der Annäherungsprozeß vieler Ex-Maoisten verschlungen und kurvenreich. Beide eint heute, daß sie es besser wissen als alle anderen. Aber das ist vielleicht eine deutsche Nationaleigenschaft.
Eine extended version dieses Texts ist im Band „'68 und die Folgen“ enthalten, der dieser Tage im Berliner Argon Verlag erscheint.
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