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Geistig Behinderte in Stimmung

■ Bei den Grünen bekamen sie statt Andrea Fischer Jo-Jos, bei der SPD einen "Sieger"-Kandidaten samt CD. Bei der CDU gab es Antworten statt Geschenke

Neugierig betritt die Gruppe das Wahlkreisbüro. Staunend stehen sie vor langen Regalen mit Broschüren von Asylrecht bis Zukunftschancen. Zu Besuch im Büro der grünen Spitzenkandidatin Andrea Fischer in der Oranienstraße in Kreuzberg sind zehn geistig behinderte Menschen vom Zachäuskreis gekommen. Die Einrichtung der katholischen Kirche bereitet sie in einem einwöchigen Kurs auf die Bundestagswahl vor.

Daß der Wahlkampf anschaulicher wird, dafür soll an diesem Mittwoch morgen die sozialpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion und Direktkandidatin in Marzahn/Hellersdorf sorgen. Doch Andrea Fischer hat verpennt und den Flieger aus Frankfurt verpaßt.

Dafür haben nicht alle Verständnis. „Frau Fischer kommt aber dann noch“, sagt einer immer wieder. Weil sie aber doch nicht noch kommt, sondern nur von einem Wahlplakat herunterlacht, springt ihr Mitarbeiter Florian Lanz ein. In einem eiskalten Raum, in dem Kekse und Saft bereitgestellt sind, klebt er auf Wunsch der Betreuer gelbe und schwarze Punkte auf eine Liste mit Ressorts wie Verkehr, Behinderte oder Kirche und Staat. Gelb steht für Investitionen, Schwarz für Einsparungen. Damit soll Lanz zeigen, wo die Grünen Prioritäten setzen. Er klebt einen gelben Punkt bei den Behinderten. Auch seine Forderungen nach regelmäßigen Bussen und Fahrstühlen in U-Bahnstationen kommen an. Darunter können sich die Behinderten – im Gegensatz zu Erläuterungen zum Ehegattensplitting – etwas vorstellen. Während es einigen schwer fällt, ihre Sätze zu formulieren, fragen andere gezielt nach dem Transrapid oder der Zukunft der Deutschlandhalle. Auf die Frage einer Frau „Wie hilfst du uns allen?“ antwortet Lanz: „Ich helfe euch, indem die Partei möglichst stark wird.“ Zum Schluß dürfen die Besucher in einen Karton mit Jo-Jos, Luftballons und Bleistiften greifen. „Nehmt's mit und amüsiert euch damit“, verabschiedet sie Lanz. Dann geht's weiter zur SPD.

Erst seit der Novellierung des Betreuungsgesetzes Anfang 1992 hat ein Großteil der bundesweit etwa 320.000 geistig Behinderten auch die freie Wahl der Wahl. Um ihnen deren Bedeutung und Funktionsweise näherzubringen, hat die Caritas erstmals eine Broschüre herausgegeben, in der in Form eines Comicheftes beispielsweise erklärt wird, daß eine „politische Partei eine Gruppe von Männern und Frauen ist, die in wichtigen gesellschaftlichen Fragen ähnlich denken“. Konrad Berger von der Caritas schätzt, daß zwei Drittel der wahlberechtigten Behinderten von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen.

Wolfgang Sparring vom Büro der Landesbeauftragten für Behinderte betont, daß er sehr für die Wahrnehmung dieses Grundrechtes ist. „Doch es muß ihre eigene Wahl sein.“ Denn: „Geistig Behinderte sind leichter als andere Wähler zu beeinflussen.“ So hatte Ralf Hillenberg, SPD-Direktkandidat in Pankow/Weißensee/Hohenschönhausen, leichtes Spiel, als die Behinderten ihn in seinem Ingenieurbüro besuchen. „Ich war der Sieger“, schwärmt er danach. Kunststück, möchte man meinen. Denn für jeden hatte er eine CD mit den SPD-Wahlkampfhits und ein Foto von sich parat. „Ich war denen sympathisch, weil ich warmherzig bin“, lobt sich der 42jährige über den roten Klee.

Nur bei der CDU, im Gespräch mit der parlamentarischen Staatssekretärin im Gesundheitsministerium und Direktkandidatin im gleichen Wahlkreis wie Hillenberg, gehen die Behinderten leer aus. „Es ist nicht Sinn der Sache, sie zu beschenken“, so Sabine Bergmann-Pohl, „sondern Antworten zu geben auf ihre Fragen.“ Barbara Bollwahn

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