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Biz ne bilelim?

Seit immer mehr türkische Berliner die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, ändert sich auch in Kreuzberg die Stimmung am Wahlsonntag. Man stellt sich jetzt bestimmt vor, daß in den Cafés entlang der Oranienstraße lebhaft diskutiert und spekuliert wird; daß der Fernseher ausnahmsweise auf ARD oder ZDF geschalten ist und daß anteilnehmende türkische Gesichter in Wahllokalen ein und aus gehen.

Pustekuchen.

Die Cafés sind zwar gewohnt voll, und es wird auch lebhaft diskutiert, aber die Gesprächsthemen beziehen sich eher auf die zuletzt abgeworfene Spielkarte, als auf den Ausgang der Bundestagswahl.

Auch am Oranienplatz hört man die älteren Herren auf den Parkbänken nicht über Politik und Zukunft reden, sondern man erzählt sich von seinem Heimatdorf in der Türkei. Dabei lächeln doch Schröder und Co in Kreuzberg besonders nett und ausländerfreundlich von den Wahlplakaten.

Doch wie gesagt: Die Stimmung ist doch anders als sonst. Die Herren auf den Parkbänken scheinen hier nicht, wie sonst, zum sonntäglichen Zeitvertreib zu sitzen. Eher hat man das Gefühl, sie warten auf irgend etwas. Womöglich doch auf den Ausgang der Wahlen? So uninteressiert, wie sie tun, können sie doch gar nicht sein!

In diesem Glauben fragt man einige von ihnen, welches Wahlergebnis sie denn erwarten. Als Antwort erhält man verdutzte, beinahe ängstliche Blicke. „Biz ne bilelim?“ lautet die Standardgegenfrage: „Woher sollen wir das wissen?“ „Was nutzt es zu spekulieren“, erklärt einer von ihnen. „Heute abend werden wir schon sehen, ob es die SPD diesmal schafft.“

Ende der Aussage.

Das ist doch immerhin ein Ausgangspunkt. Ob sie sich den Wahlsieg der SPD denn wünschen würden, ist die nächste Frage. „Wenn die gut sind und die Interessen der Mehrheit verteidigen – warum nicht?“ meint einer. Was er sich persönlich wünsche, sei unwichtig. Auch Fragen an andere mögliche Neuwähler enden mit ähnlichen Ergebnissen. Die Befragten zeigen sich auffallend uninteressiert und wollen sich zu Äußerungen über Wünsche und persönlichen Interessen bezüglich der Wahl nicht hinreißen lassen.

Warum sind selbst eingebürgerte Migranten, die auch durch ihre Kreuzchen die Wahlen mitentscheiden, so zurückhaltend? Haben sie Angst vor der Anteilnahme, weil sie dann auch Verantwortung tragen müssen, oder ist es die Befürchtung, daß ihre Stimmen, die nach einer Einbürgerung gewichtiger werden als zuvor, doch keine Veränderung herbeibringen? Sicher ist nur eins: Die Stimmung in Kreuzberg ist am Wahlsonntag anders als sonst. Songül Çentinkaya

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