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Wartesaal der Dämmerung

Die Aura der Inkontinenz: Elfriede Jelineks schamfreier Schriftsteller-Schwanengesang „Er nicht als er (zu, mit Robert Walser)“ feierte im Malersaal Premiere  ■ Von Birgit Glombitza

In einem vergangenen Land, irgendwo hinter den Schweizer Bergen und nicht weit von den tiefen Seen narzistischer Ergriffenheit wohnt ein Schatten. Ein Dichter, Robert Walser, der den Schlüssel zu seinem Gedankenzimmer an nie gesehenes Personal abgegeben hat. Doch heute ist Tag der offenen Tür in der Nervenheilanstalt Herisau, wo der Meister der Distanz und der sprunghaften Realitäten die letzten 23 Jahre seines Lebens verbrachte. Das heißt, wenn die Tür ins Freie überhaupt aufgeht. Denn manchmal führt der Ein- und Ausgang in Elfriede Jelineks Bühnenstück er nicht als er (zu, mit Robert Walser) nur in einen Kleiderschrank mit eingemotteter Militärkluft für die Schlachtfelder des Geistes und mit Urinflaschen für alterstrübe Absonderungen.

Jelineks höchst intime Walserreise, die unter der Regie von Jossi Wieler bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt wurde und am Donnerstag im Malersaal des Schauspielhauses seine Hamburg-Premiere feierte, gibt ein Faktotum zur Besichtigung frei. Walser (André Jung), der Spaziergänger entlang schon schluchzender Beschaulichkeiten schlurft hier in speckiger Strickjacke an seinen drei Besucherinnen vorbei. Durch Gänge zieht er seine Kreise, die für die angewanderten Bewunderinnen – allesamt von den Zöpfen bis zur Kopfbedeckung mit Jelinekschen Attributen ausgestattet – Schleichwege eines Verschwindenden bleiben.

„Ihnen schaut da die Seele zum Körper heraus“, weisen die höflichen Frauen (Marlen Diekhoff, Ilse Ritter, Lore Stefanek) das zugeriegelte Exponat taktvoll auf seine inkontinente Aura hin. Dann machen sie sich – mal mit bienenfleißiger Betulichkeit, mal mit apodiktischer Schärfe und abgezählten Portionen Selbstironie – daran, den Patienten auf den Objektträger ihrer eigenen Schaffensfragen zu legen. Ein hermetisches Unterfangen, das die eindrucksvolle und konzentrierte Inszenierung von Jossi Wieler immer wieder an sprödem Witz und banalen Ritualen aufreibt. Bis zwischen den Protagonisten ein seltsamer Kreisverkehr aus Fragen und Nichtssagerei rotiert.

„Die Sprache ist so wenig wert wie das Leben, denn sie ist das Leben selbst“, sagt die eine und beißt bald in einen porösen Keks, als sei das noch das handfesteste, was man erwarten darf. Derweil wandelt Walser zwischen wischfreundlichem Nußbaumfunier und Maggiflaschenanrichte, zwischen ausrangierten Sofagarnituren und eingebauter Naßzelle auf und ab. Ein Wartesaal (Bühnenbild von Anne Viebrock) zur ewigen Dämmerung. „Musik hingegen“, textet eine andere hingerissen von der eigenen Betrachtung weiter, kann „auch gegessen werden wie eine scharfe Wurst, Salat, Bratkartoffeln.“ Also, Musik bitte! Heute jedenfalls gibt es Pellkartoffeln mit Klassik-Top-Ten obendrauf. Und außerdem Gedankenperlen der dreigestaltigen Dichterin über das Anundfürsich des Beiundaußersichseins, über die Pauschalreisen des Selbst zu historischen Vorschreibern und die Ratenzahlungen an das Gebot der Einzigartigkeit. Ein Literatengipfel zwischen Verehrung und Verstörung, den Patient Walser erst mit Schweigen, dann mit Spott, schließlich mit forttreibenden Nebelbildern quittiert.

Am Ende bricht er auf zum letzten Winterspaziergang, der als berühmtes Foto enden und das Rätsel der Walser-Gestalt besiegeln sollte. Eine Herzattacke wirft ihn um. Ein Arm ausgestreckt wie ein provisorischer Schnee-Engel, der Hut ein paar Meter daneben wie ein dicker Schlußpunkt. In der Inszenierung von Jossi Wieler fällt bloß die Kopfbedeckung vom Haken. Punkt, Aus. Das war es, und das reicht.

heute, 20 Uhr; morgen (mit Einführung), 19.30 Uhr. Fr, 23., 20 Uhr; So, 25. Oktober (mit Einführung), 19.30 Uhr, Malersaal

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