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Visa? Die Freiheit nehm' ich dir!

Für viele Rumänen ist der Schwarzwald oder Ostfriesland ein begehrtes Urlaubsziel. Für die Reise nach Germania ist jedoch ein Visum vonnöten. Und so eines zu bekommen, kann länger dauern. Eine Studie über Warteschleifen vor der deutschen Botschaft in Bukarest  ■ Von Ralf Südhoff

„Im Deutschen sagt man, glaube ich: Geh zur Hölle.

Bei uns heißt das inzwischen: Hol dir ein Visum.“ (Eine Rumänin vor der deutschen Botschaft in Bukarest)

Wer ins gelobte Land will, muß erst in die ungeliebte Stadt. So machen sich Kinga Sütö und ihre Mutter in Bicaz im Norden Rumäniens um fünf Uhr früh auf nach Bukarest. Genau wie im Westen des Landes die Stoians in Craiova. Wie im Nordosten Ana Vasile· die in Iasi den ersten Zug nimmt. Und wie im Osten die vier Popescus· die am Schwarzen Meer in ihren Dacia steigen. Sie alle wollen im hektischen Bukarest nicht lange bleiben. Nur morgen kurz zur deutschen Botschaft, ein Visum holen – für ein paar Tage Deutschland.

„Am Montag bleibt die Botschaft aus betriebsinternen Gründen geschlossen.“ Der kleine Zettel hängt an der Eingangspforte. „Kein Mensch hat uns das gesagt“, schimpft Kingas Mutter Cecilia, „dabei habe ich vorher noch angerufen.“ Sie sind alle umsonst gekommen, genau wie die rund dreihundert Rumänen, die ebenso ratlos vor der deutschen Botschaft stehen.

Am Dienstag sind es an die tausend. Sie alle hoffen auf ein Touristenvisum: Die zwanzigjährige Lehrerin Kinga Sütö möchte ihren Onkel in Augsburg besuchen, die betagte Ana Vasile ihren Sohn in Landshut. Die Stoians freuen sich schon auf die Hochzeit ihrer Tochter in Hildesheim, die Kinder Popescu auf ihren deutschen Onkel, der ihnen Frankfurt am Main zeigen möchte. Doch für all das braucht es ein Visum, und das gibt es nur da drin, in der belagerten Botschaft. Allzu viele kommen am Dienstag nicht hinein. Selbst für Kinga Sütö reicht es nicht, obwohl sie auf der „Lista“ immerhin die Nummer 176 ergattert hat.

Die Lista – anarchische wie allmächtige Warteliste. Weil die Botschaft keine Nummern vergibt, fängt jede Woche irgendein Wartender auf der Strada Rabat im Villenviertel von Bukarest eine Lista an. Wer kommt, kriegt die nächste Nummer. Über siebenhundert Startnummern sind an diesem Dienstag für das Visaglücksrad vergeben. Nur wenige ziehen das große Los und dürfen das deutsche Haus mit Holzbalkonen und Alpenambiente betreten.

Am Mittwoch sind es rund 350 müde Gestalten, die schon die Botschaft umkreisen und träge einen Warteplatz für den Tag suchen – auf dem Bordstein, im Klappstuhl mitten auf der eigens gesperrten Straße oder auf dem Zaun vor der Grünfläche gegenüber der Botschaft, wo die letzten noch ihr Nachtlager zusammensammeln.

Wie die Popescus, die die Nacht im Dacia verbracht haben. „Wie sehen wir jetzt aus?“ schimpft Mutter Popescu von der Rückbank des Wagens. Ihr Jackett war mal weiß, die schwarze Hose gebügelt. „Extra fein gemacht haben wir uns, damit die Kinder ihr Visum bekommen!“ Dabei hatten sie es vor drei Wochen schon in die Botschaft geschafft.

Alles hatten sie dabei: den Antrag in doppelter Ausfertigung, je zwei Fotos, die Ausweise der Kinder, die Reisekrankenversicherung mit hundertprozentigem Deckungsschutz und den Urlaubsantrag von Sohn Ion; die Einladung des Onkels aus Frankfurt und seine Bürgschaft, für alle Kosten aufzukommen; seine Verdienstbescheinigungen der letzten drei Monate und den Kaufvertrag seiner Eigentumswohnung – der Nachweis, daß genügend Wohnraum für die Gäste da ist. „Nur die Arbeitsbescheinigung von Ion fehlte“, sagt Mutter Oana. Nachschicken durften sie nicht.

„Ich dachte, Deutschland wäre das Land der Effizienz“, sagt Oana Popescu und zeigt auf die Menschenmassen vor dem Botschaftstor: „Warum organisiert das dann hier niemand?“

Daß der Pulk das Tor nicht kurzerhand eindrückt, dafür sorgen Soldaten. „Zurücktreten!“ befiehlt einer möglichst forsch und hält die Kalaschnikow noch ein bißchen fester. Es sind die gleichen Kalaschnikows, die schon vor der Wende die deutsche Botschaft bewachten – im Auftrag des Diktators Nicolae Ceausescu, der die Reiselust seiner Untertanen fürchtete. Während Bonn fast täglich die fehlende Reisefreiheit hinter dem Eisernen Vorhang geißelte und jeder Flüchtling zum Kronzeugen von „Freiheit statt Sozialismus“ wurde.

Aus dem Eisernen Vorhang ist ein eiserner Zaun geworden. Der schützt nun die Bukarester Botschaft der Deutschen. Nach der Wende ließ ihn der Botschafter noch um einen Meter erhöhen – mit Zacken, die spitz nach außen weisen.

Von acht bis zwölf Uhr ist Annahme der Visaanträge. Um Viertel nach acht gibt der Oberaufseher der Botschaft seinen ersten Auftritt: Der wohlfrisierte Rumäne mit dem Silberhaar und der bunten Designerkrawatte, den irgend jemand „Ernesto“ getauft hat, tritt durchs Tor. Flankiert von zwei Polizisten. Forsch ruft der Botschaftsangestellte die ersten Besucher herein: „Zunächst alle, die einen Termin haben.“ Ein Dutzend Paar Lackschuhe und Aktenkoffer wandern zügig durch das Tor. „Jetzt die ersten, die ein Geschäftsvisum benötigen.“ Die nächsten Aktenkoffer machen sich auf.

Mit jeder Ankündigung kommt die Menge in Wallung: Alles springt auf von Bordsteinen und Zaunpfählen, Klappstühlen und Zeitungsfetzen. Zentimeterweise geht es vorwärts Richtung Zaun, schwitzend in der prallen Sonne, alles schiebt, bis die Polizisten wieder kommandieren: „Zurück!“, „Zurück!“ Und das Spiel um Zentimeter von neuem beginnt, hin und her, wie beim American Football. Nur das Tor ist kleiner: Einen halben Meter schmal ist die vergitterte Pforte nach „Germania“. Bis Ernesto wieder hervortritt und die nächsten zum Touchdown bittet: „Jetzt alle, die vor 1929 geboren sind“, erlöst er zumindest die Ältesten.

Nach über einer Stunde ist noch keiner von der seitenlangen Touristenliste drangekommen. Endlich ruft Ernesto die Touristenvisa auf. Jetzt ist der Moment für den selbsternannten Listenchef gekommen: „Numar 164, 165, 166!“ Alles springt wieder auf, stürzt zum Tor: „Da!“ – „Da!“ – „Da!“ schallt es zurück. Denn wer sich nicht sofort meldet, ist raus aus dem Spiel. Wie die junge Bukaresterin, die in Tränen ausbricht: „Da hinten habe ich doch gestanden“, zeigt sie dem Listenchef immer wieder dasselbe schattige Stückchen Asphalt, nur zwanzig Meter entfernt.

Jetzt helfen nur noch Devisen: Mit zehn Mark aufwärts läßt sich einem guten Listenplatz nachhelfen. Doch bei durchschnittlichen Renten und Löhnen von hundert bis zweihundert Mark bleibt das ein seltenes Privileg.

Fünfzehn Meter über dem Menschenauflauf liegt sein Domizil, hinter Summern und Sicherheitstüren. Immer freundlich, immer etwas müde schaut Doktor Heinemann durch seine goldgeränderte Brille. „Bei uns wird jeder Visumantrag binnen eines Tages angenommen“, versichert der kommissarische Botschafter. „Für die Rumänen ist Deutschland eben immer noch das Wirtschaftswunderland.“ Da müsse man bei der Visa- Vergabe schon aufpassen. „Wir sind ein offenes Land, doch wir müssen uns vor Überschwemmung und Überfremdung bewahren.“

Siebzigtausend Rumänen beantragen jährlich in Bukarest ein Visum. Nur wer in Siebenbürgen oder in Temesvar lebt, kann zu den dortigen Konsulaten gehen. Per Post geht nichts, Termine werden an gemeine Antragssteller nicht vergeben. „Wissen Sie, die Rumänen entscheiden sich immer von heute auf morgen, da würde das alles viel zu lange dauern“, sagt Klaus Heinemann. „Zudem müssen unsere Sachbearbeiter Reisewillige persönlich befragen können.“ Wonach? „Nun, wer Urlaub machen will, muß etwa einen Urlaubsplan vorlegen.“ Außerdem entscheiden die Mitarbeiter nach „ihrem persönlichen Eindruck“. Fällt der, meist über Dolmetscher vermittelt, negativ aus, wird es mit dem Visum nichts. Begründung nicht nötig. „Das Verfahren ist transparent und sinnvoll“, findet Klaus Heinemann. Nur im Sommer, ja, da könne es vor der Botschaft zu Engpässen kommen. Warum war dann am Montag zu? „Da hatten wir unseren Betriebsausflug“, sagt er.

„Numar 176!“ Endlich ist es soweit: Kinga Sütö tritt durch das Tor. Bald darauf folgen Ana Vasile, die Stoians und die Kinder Popescu. Nach einer Stunde ist alles vorbei, das Visum beantragt. Jetzt folgt die übliche Bearbeitungszeit: vier Tage.

„Ich bleibe, bis ich mein Visum habe“, sagt Kinga Sütö. „Auch wenn die Deutschen uns abschrecken wollen.“ Der mitwartende Andrei Romoceau weiß auch, warum: „Das liegt an den Zigeunern.“ Wie alles in Rumänien. „Die klauen in Deutschland wie die Raben, und wir kriegen deshalb kein Visum“, sagt er und spricht damit aus, was viele denken.

In gewissem Sinne hat der Maler recht. 1992 beschwerte sich das Bundesinnenministerium bei der Botschaft in Bukarest, daß sie zu leichtfertig Visa vergebe und Tausende Rumänen sie als Eintrittskarte zum Asylverfahren mißbrauchten. Aus keinem Land außer Exjugoslawien kamen damals mehr Bewerber: hunderttausend allein 1992. Gut die Hälfte davon Roma, deren Häuser in der Heimat immer öfter niedergebrannt wurden.

Während der US-Kongreß bei der rumänischen Regierung protestierte, daß sie zuwenig gegen die Pogrome tue, schloß Bonn mit derselben ein „Rücknahmeabkommen“. Fortan konnten, Pogrome hin oder her, auch Roma sehr viel schneller abgeschoben werden. Und die Hürden für ein Visum wurden drastisch erhöht. Inzwischen hat sich die politische Lage in Rumänien entspannt. Ganze 133 Rumänen beantragten in den ersten vier Monaten dieses Jahres Asyl in Deutschland. Doch die verschärften Visabedingungen bleiben. Ohne Job kein Deutschlandurlaub etwa.

Montag – neues Spiel, neues Glück!? Die Visumausgabe ist zwar erst ab zwölf Uhr, doch viel später als zehn traut sich kaum einer zu kommen. Wie Kinga und ihre Mutter. „Vielleicht können sie gleich weiter zum Bahnhof?“ hofft Kinga Sütö.

Um zwölf Uhr ist die Strada Rabat erneut bevölkert wie bei einer Kundgebung. Hin und her geht es wieder, das alte Spiel. Die ersten Abholer werden hereingerufen. Doch dann verkündet Ernesto: „Die Computer sind zusammengebrochen.“

Ein paar Visa werden noch per Hand geschrieben. Das von Kinga ist nicht dabei und das der Stoians auch nicht, obwohl sie doch zur Hochzeit müssen. Auch Ana Vasile aus Iasi geht leer aus.

So sind sie heute alle wieder da. Außer Ana Vasile. Die hat es nicht mehr ausgehalten. Und ist mit dem Nachtzug nach Hause gefahren. Die anderen kommen heute auch nicht weiter, denn die Computer sind weiter im Streik. Nur Kinga Sütö darf am Nachmittag die heiligen Hallen nochmals betreten. Und soll morgen wiederkommen. Zum Visuminterview.

Über Nacht ist Herr Vasile aus Iasi gekommen, um statt seiner Frau auf ihr Visum zu warten. So trifft er die Stoians, die jetzt gar nicht mehr heim nach Craiova fahren, sondern seit zwei Nächten auf der kleinen Wiese vor der Botschaft schlafen. „Wir haben uns sogar telefonisch beim Vizekonsul beschwert, weil unsere Tochter doch in zwei Tagen heiratet“, erzählt Herr Stoian. Vor morgen kann man da nichts machen, hieß es. „Und dann schaffen wir es auf keinen Fall mit dem Bus noch bis nach Hildesheim“, resigniert seine Frau.

Um kurz nach fünf ist es soweit: Kinga Sütö hat ihr Interview. Ihre Mutter wartet draußen, Reisetaschen und Proviant für die Heimfahrt bereits dabei. Nach einer halben Stunde kommt Kinga heraus. In der Hand hält sie den roten Reisepaß. Und irgendwo, auf einer der hintersten Seiten, steht der grünblaue Aufdruck: Visum.

Am nächsten Morgen sind die beiden wieder daheim in Bicaz. Die Operation „Visum“ ist für Kinga Süto nach elf Tagen und zwei Stunden zu Ende.

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