: Traumatisierte Zeugin muß erneut aussagen
In einem Prozeß vor dem UNO-Tribunal wegen sexueller Gewaltverbrechen im Bosnienkrieg dienen der Verteidigung psychische Probleme der Hauptzeugin als Beweis für ihre „mangelnde Glaubwürdigkeit“ ■ Aus Genf Andreas Zumach
Nach den sexuellen Gewaltverbrechen im Bosnienkrieg an mindestens 20.000 überwiegend muslimischen Frauen schien die jahrhundertelange Verdrängung derartiger Verbrechen endlich überwunden. Immer wieder seit Gründung des Den Haager Tribunals im Jahre 1993 hatte dessen erster Chefankläger Richard Goldstone die Zusage gegeben: „Sexualisierte Gewalt im Krieg wird durch das Den Haager UNO-Tribunal über Ex-Jugoslawien endgültig als Kriegsverbrechen anerkannt und verurteilt werden!“
Doch fünf Jahre später gibt es noch immer keine einzige Verurteilung wegen sexueller Gewalt – obwohl dieser Vorwurf gegen drei Viertel der bislang vom Tribunal öffentlich angeklagten 79 Personen erhoben wird. Und am Montag beginnt vor dem Tribunal ein Wiederaufnahmeverfahren, das nach Befürchtung von „Medica Mondiale“ und anderen Organisationen, die sich um die Überlebenden sexueller Gewalt im Krieg kümmern, zu einem „Rollback“ vor die Zeit des Bosnienkrieges führen könnte.
Angeklagt ist Anto Furundzija, ehemaliger Kommandant der „Joker“, einer wegen ihrer Brutalität besonders berüchtigten Spezialeinheit des bosnisch-kroatischen Verteidigungsrates (HVO). In dieser Funktion soll Furundzija am 15. Mai 1993 im Hauptquartier der „Joker“ bei Vitez die Hauptbelastungszeugin, A., verhört haben. Ihr Name wird aus Schutzgründen geheimgehalten. Laut Anklageschrift mußte A. das gesamte Verhör unbekleidet durchstehen, wurde von einem Untergebenen Furundzijas mehrfach vergewaltigt und gezwungen, dessen Sperma und Urin zu schlucken. Einmal wurde ein Messer gegen A.s Vagina gerieben.
Ein erster Prozeß fand bereits vom 8. bis 22. Juni dieses Jahres statt. Das Urteil war für den 15. Juli vorgesehen. Statt dessen ordnete die dreiköpfige RichterInnenkammer jedoch die Wiederaufnahme an. Grund für diese Wende war die Beschwerde der Verteidigung über einen angeblichen „Verstoß der Anklagevertretung gegen die Prozeßordnung durch das Zurückhalten von Entlastungsmaterial“.
A. hatte aufgrund von Alpträumen infolge der Gewaltverbrechen zwischen Dezember 93 und Sommer 95 drei Mal die psychologische Beratungsstelle des Frauentherapiezentrums aufgesucht, das „Medica Mondiale“ im bosnischen Zenica unterhält. Dieser Umstand war der Verteidigung ebenso bekannt wie die psychischen Folgen der Gewalttaten, über die A. während des Verfahrens im Juni offen gesprochen hatte. Lediglich die formelle Bescheinigung über A.s Beratung in Zenica sowie die schriftliche Aussage der Medica- Psychologin über einzelne Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen hatte die Anklage aus Gründen des Schutzes der Privatsphäre von A. nicht als Beweismaterial in die Verhandlung eingebracht. Nach deren Ende wurden beide Dokumente den Akten zugefügt.
Die Verteidigung beantragte daraufhin, die Aussage „A.s“ ganz zu streichen, da die Vorenthaltung der beiden Dokumente das Recht des Angeklagten auf einen fairen Prozeß verletzt hätte. Statt dessen ordneten die RichterInnen die Wiederaufnahme des Verfahrens an. Zwar wurde das neue Verfahren begrenzt auf „jedwede medizinische, psychologische oder psychiatrische Behandlung der Zeugin A. nach Mai 1993“. Dennoch bedeutet dies, daß sich A. erneut einem Kreuzverhör unterziehen muß – zwecks Überprüfung ihrer Glaubwürdigkeit.
Nach Einschätzung von „Medica Mondiale“ verfolgte die Verteidigung die Strategie, die Anklage gegen Furundzija über den Nachweis „schlechter, falscher und/oder beeinflußter Erinnerung“ der Hauptbelastungszeugin zu Fall zu bringen. Während die sexuellen Gewaltverbrechen selbst nicht in Frage gestellt wurden, behauptete die Verteidigung eine „falsche Erinnerung“ der Zeugin A. im Hinblick auf die Anwesenheit des Angeklagten, ausgelöst durch posttraumatische Belastungsstörungen. Sollten die drei RichterInnen dieser Argumentation der Verteidigung im Wiederaufnahmeverfahren folgen, und sollte das Tribunal eine derartige Verteidigungsstrategie auch für künftige Prozesse zulassen, würde sich das Tribunal nach Meinung von „Medica Mondiale“ zumindest mit Blick auf die Verfolgung sexueller Gewaltverbrechen „selbst ad absurdum führen“. Denn fast alle zur Verfügung stehenden Zeuginnen sind zugleich die Überlebenden dieser Verbrechen. Laut „Medica“ ist davon auszugehen, daß alle traumatisiert sind. Wenn dies zum Beweis ihrer Unglaubwürdigkeit genommen werde, wären alle Zeuginnen unglaubwürdig. Dann würden jene, die einen Ausweg aus ihrem Leiden suchten, indem sie sich eine professionelle Hilfe organisierten, durch das Tribunal bestraft. In Briefen an die Den Haager Richter, UNO-Generalsekretär Kofi Annan und Bundesaußenminister Joschka Fischer haben „Medica Mondiale“ und andere Organisationen inzwischen gegen das erneute Kreuzverhör von Zeugin A. im Wiederaufnahmeverfahren protestiert. Bis gestern blieben diese Proteste ohne Reaktion.
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